Unsichtbare Blicke
Gebetsrunden gesehen hatten. Zur Zeit von Josies Verschwinden konnte er auf keinen Fall in seinem Haus in Dornbusch gewesen sein. Er besaß nicht einmal ein Handy, geschweige denn einen Computer.
Vor allem aber hatte sie ihm in den stundenlangen Verhören schlicht abgenommen, dass er Josie wie eine eigene Tochter liebte. Nach allem, was in seinem Heimatort über ihn verbreitet wurde, war dies eine harte und erdrückende Liebe, aber durch die Verbitterung und Engstirnigkeit schimmerte immer, wenn er von Josie sprach, die echte Sorge.
Sonnleitner oder Welz war ein überzeugter Genosse gewesen, wie er sich vom realsozialistischen Saulus zum frömmelnden Paulus bei den Brüdern des Lichts gewandelt hatte, erschloss sich Stella nicht. Er hatte mit Eifer Menschen denunziert – vorwiegend Leute aus dem Filmgeschäft der DDR , auch einige, die in der kirchlichen Opposition aktiv waren –, mit demselben Eifer hatte er seiner Gemeinde im Westen gedient. Nach der Wende hatten ihm ein paar der alten Seilschaften einen Neuanfang unter neuem Namen ermöglicht, zunächst in Berlin, aber als er dort nach ein paar Jahren fast aufgeflogen war, hatte er die Flucht in den Westen bis Dornbusch angetreten.
«Der Täter spielt mit uns», hatte Saito dazu gemeint. «Er wirft uns Knochen hin, nach den wir schnappen sollen. Wenn wir davon ausgehen, dass er die Vorgeschichte von Josies Adoptiveltern kannte, dann wusste er auch von dem Decknamen Geronimo. Irgendwann würden wir darauf kommen und unsere Ermittlungen in diese Richtung lenken.»
Jetzt schreckte Miki sie aus ihren Gedanken, als er ohne zu klopfen das Büro betrat. «Diuso sitzt unten», sagte er, worauf Stella die Fotos zusammenpackte und ihrem Partner folgte.
In einem der Verhörräume wartete Felix. Die Videoüberwachung lief. Im Vorraum stand bereits Winterstein. Die Wände hatten in diesem Präsidium Ohren, das wusste Stella. Kurz darauf trat auch die Staatsanwältin hinzu.
«Fang du an», forderte Stella Saito auf. Eine Zeitlang beobachtete sie, wie Saito kühl bis in die Spitzen seiner Gelstacheln auf dem Kopf Felix nach seiner Reise mit den Kumpels fragte, nach der Trennung von ihnen und der langen Rückfahrt nach Deutschland.
Und ihn schließlich mit der Tatsache konfrontierte, dass es sich bei den DNA -Spuren an dem Holzkettchen, das bei Sarah gefunden wurde, um seine Erbinformationen handelte. Nachweislich. Und bei den Spermaresten ebenso. Genauso nachweislich.
Stella sah das in Felix’ Augen. Erstaunen, und dann Entsetzen, das nicht von den Signalen ratternder Gehirnzellen gestört wurde, die sich eine Ausrede zurechtlegten. Er musste sich nichts zurechtlegen.
«Ich habe doch gesagt, dass ich es verloren habe», sagte Felix Diuso zum wiederholten Male, als Stella selbst in den Verhörraum trat. Sie lehnte sich still an die Wand. Felix schaute sie flehend an. Stellas Miene blieb verschlossen. Das Foto des Holzkettchens lag zwischen Felix und Saito auf dem Tisch, daneben eine Kopie der DNA -Auswertungen.
«Herr Diuso, wir kommen so nicht weiter», sagte Saito. Er tippte auf die Dokumente. «Sie wissen, was das bedeutet. Ihre DNA wurde an Sarah Trautmann gefunden. Ihr Sperma, um es genau zu sagen. Und Sie haben diese Kette selbst identifiziert.»
Das Aufnahmegerät, dessen rotes Lämpchen ab und zu flackerte, surrte leise; im Moment nahm es eher Gesprächspausen auf.
«Nach unserem Ausflug in den Spreewald war es weg. Josie hat mir ein neues gemacht.» Er zog es unter dem Hemd hervor. Tränen kullerten über seine Wangen. «Sie hat gesagt, es sei nicht so schlimm, aber ich fand es schlimm, es war ihr erstes Geschenk für mich, und ich Idiot verschussele es.» Er nahm einen Schluck Wasser, seine Hand zitterte, und er verschüttete etwas. Er wischte sich Mund und Gesicht mit dem T-Shirt, das er mit beiden Händen hochnahm, ab.
Stella wusste, was jetzt erwartet wurde, von Winterstein, der Staatsanwältin, die im Nebenraum das Verhör an einem Monitor verfolgten. Jeder von ihnen hätte jetzt den Jungen weiter unter Druck gesetzt. Richtig unter Druck.
Seit sie Diusos Rückreise von Kroatien nachvollzogen hatten, erst recht: Er hätte in Deutschland sein können, als Sarah und Josie verschwunden waren. Mit dem Zug von Dubrovnik nach Köln hätte er um die dreißig, mit dem Auto und guten Nerven sogar nur unter zwanzig Stunden gebraucht. Seine Behauptung, er sei per Anhalter gefahren und habe fast vier Tage gebraucht, konnte er durch nichts beweisen, und selbst
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