Unsichtbare Blicke
banaler Fragerei. Ich gebe dir gleich die Antwort auf deine nächste Frage, woher ich diese Vermutung nehme.
«Wir bekommen manchmal mehr Aufmerksamkeit, als uns guttut.»
Mit schnellen Schritten durchmaß Stella den Raum. Sie bewegte sich an der Vorderfront entlang und stieß alle vier Fenster mitsamt den Laden mit Schwung auf. Gleißendes Sonnenlicht fiel hinein und erhitzte den Raum schlagartig.
«Wissen Sie, wo Josie ist, Herr Wester?»
«Nein, Frau van Wahden. Ich kenne dieses Mädchen nicht einmal.»
«Gut. Wo waren Sie am Sechsten dieses Monats?»
Wester zückte sein Smartphone und schaute in den Kalender. «Ja, ich hätte es mir denken können. Mittwoch. Ich hocke eigentlich jeden Mittwoch mit dem Pförtner der Zentrale zusammen. Nach dem Wochenmeeting der Bezirksleiter hauen wir ein paar Bier weg und schwärmen von den alten Zeiten.»
Zum ersten Mal glaubte Stella eine Gefühlsregung wahrzunehmen. Was es war, konnte sie nicht sagen.
«Mit dem Pförtner?»
«Theo Monk und ich hatten das Vergnügen, unsere Kindheit gemeinsam unter der Obhut des Arbeiter- und Bauernstaats zu verbringen. Das schweißt zusammen.»
Saito notierte sich Westers Angaben und verließ den Raum.
«Sie erlauben uns, dass wir das überprüfen.»
«Ich erlaube Ihnen alles, Frau van …»
«Hören Sie auf damit.»
Die Schärfe in Stellas Stimme war wohlkalkuliert. Ihr war längst klar, dass sie ein endloses Katz-und-Maus-Spiel erwartete. Eigentlich hatte sie woanders ansetzen wollen, aber der winzige Bruch bei seinem Spruch über die guten alten Zeiten lenkte Stellas Intuition in eine neue Richtung.
«Erzählen Sie mir von Ihren Eltern. Sie haben lange auf das Wiedersehen warten müssen und sind dann recht schnell in die Hütte am Wald gezogen.»
«Ich passte nicht in ihr Leben. Sie hatten die Zone, wie der gute Bernhard Tschelcher sagt, hinter sich gelassen. Und alles, was darin war.»
Er war wieder auf festem Boden. Sie spürte es. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, aber Stella blieb nun erst einmal auf dieser Bahn.
«Das tut weh.»
«Wem? Ihnen?»
«Dem Jungen, der damals nach Hause kam.»
«Ich war kein Junge mehr. Ich war fast neunzehn. Und ich kam nicht nach Hause.»
«Warum sind Sie dann hiergeblieben?»
«Es war bequem. Ich hatte in Kleinsdorff kein sehr bequemes Leben. Und Thorsten konnte hier einiges für mich tun. Thorsten Wester. Mein Vater.»
«Ich dachte, Sie haben ihn gehasst?»
«Wer sagt das? Die hier im Dorf? Bernhard?»
«Nein, ich hatte den Eindruck.»
«Sie hatten gar keinen Eindruck. Ich habe ihn nicht gehasst. Er hat mich kaltgelassen und …», er betonte die nächsten Worte, «meine Mutter auch. Die Hütte war eine gute Lösung. Und ja! Ihr schlechtes Gewissen jeden Tag anzuschauen, hat mir Genugtuung verschafft.»
«Erzählen Sie mir von Kleinsdorff.»
«Wollen Sie jetzt meine ganze Lebensgeschichte hören?»
«Wenn Sie wollen, ja, ich habe Zeit.»
Obwohl es innerhalb weniger Minuten hochsommerlich heiß in dem großen Zimmer geworden war, saß Wester ungerührt und kerzengerade auf seinem Platz. Er lockerte nicht die Krawatte, legte ebenso wenig das Jackett ab. Ohne Umschweife berichtete er von Misshandlungen, drakonischen Strafen, wochenlanger Einzelhaft.
Stella zweifelte nicht an der Glaubwürdigkeit dieser Chronik des Schreckens. Wester erzählte viel zu detailreich, niemand dachte sich so etwas aus; es waren seine Erlebnisse, zumindest die eines Menschen, der ihm sehr nahestand, sie vielleicht seinerseits Wester erzählt hatte. Diese Möglichkeit bestand.
Seine Distanz irritierte Stella. Vielleicht beschlich sie deshalb das Gefühl, nicht Westers Geschichte zu hören, sondern die seines Bruders oder besten Freundes. Sie hatte schon Lebensgeschichten – auch und gerade von Tätern – gehört, die Mitgefühl, manchmal Grusel, in seltenen Fällen sogar Wut ausgelöst hatten. Stella hielt solche Gefühle meistens gut unter Kontrolle, denn ihre Folge waren oft Fehler, die im schlimmsten Fall wochenlange Fahndungsarbeit zunichtemachten.
Die Fähigkeit, wenigstens ansatzweise nachzufühlen, was ein anderer Mensch empfand, darauf kam es an. Nicht Mitleid oder Mitgefühl, die nur in eine emotionale Einbahnstraße führten. Wenn sie Glück hatte, fand Stella irgendeinen Verbindungspunkt zwischen sich und dem Täter, manchmal ganz offenkundig, weil es biographische Überschneidungen gab, manchmal nur in winzigen Regungen, die ihre Seele kaum streiften. Sie sprach mit niemandem
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