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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Gitter kam, und schon gar nicht daran, ob der Belüftungsschacht selbst für ein schmales Wesen wie mich zu eng war. Und ob er einen Ausgang hatte, der nicht ebenso verrammelt war, wie das Gitter an der Decke in meinem Zimmer.
    Von meinen Wasservorräten war bald nicht mehr viel übrig. Eine Handbreit Flüssigkeit stand noch in der letzten Plastikflasche. Von mir selbst war nicht mehr viel übrig. Ein paar Tage braucht es nur, um einen Menschen aufzulösen, dieser Gedanke hatte mich schon mehrmals ergriffen und mir kalte und heiße Schauer über den Körper gejagt. Wie wenig war nötig, um dich bereit zu machen für Dinge, an die du vielleicht nie gedacht hattest. Was würdest du alles tun, um dich zu retten? Mit jeder Stunde sank die Schmerzgrenze, das wurde mir immer bewusster. Und die Schamgrenze.
    In der dritten Dunkelheit seit er gegangen war, löste sich das Gitter.
    Ich tastete den Hohlraum über mir ab. An die Dunkelheit hatte ich mich zwar gewöhnt, aber es war unangenehm, die Hand nach oben in diese noch ungewissere Schwärze zu strecken. Warten, bis das Licht wieder aufflammte, wollte ich aber auch nicht.
    Schmutz, Staub – mehr war nicht zu ertasten und kleine Kügelchen, nicht ganz so hart wie Kiesel. Ich konnte sie zwischen den Fingern zerreiben. Das war also das Getrippel gewesen, das ich zu hören geglaubt hatte. Mäuse, Mäusekot, vielleicht auch der von Ratten. Der Schacht schien mit Metall ausgekleidet zu sein; ich klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen; es klang blechern.
    Um hineinzugelangen, musste ich die Arme ganz nach oben strecken, meine Schultern so weit wie eben möglich nach innen biegen. Der Turm aus Stuhl und Nachttisch wackelte, ich konnte mich oben nicht abstützen.
    Kurz bevor ich mich mit einem Ruck aus den Knien abstoßen wollte, fiel mir ein, dass ich das Wasser vergessen hatte. Vorsichtig stieg ich noch einmal hinab, tastete mich zu der Flasche, nahm sie und stieg wieder hinauf.
    Ich warf die Flasche in den Schacht, der nach rechts und links abknickte. Ich hatte mich für die rechte Seite entschieden, weil sie in die Richtung des Flurs und des Waschraums führte. Wieder streckte ich die Arme, brachte die Hände nach rechts, gab mir den Kick aus den Knien, der Turm wankte, ich drückte mich noch einmal ab und gelangte bis über die Ellbogen in den Schacht.
    Unter mir polterte es. Die Möbelstücke waren umgekippt.
    Meine Hände rutschten auf dem glatten Material ab. Das Geräusch meiner Fingernägel auf dem Metall durchschnitt meinen Gehörgang, schlimmer als das Quietschen von Kreide auf einer alten Schiefertafel. Die Schmerzen in meinen Unterarmmuskeln, vom Kratzen schon schlimm genug, steigerten sich ins Unerträgliche. Ich rutschte Zentimeter für Zentimeter – und stürzte zurück ins Zimmer.
    Ein Stuhlbein rammte sich in meine Hüfte. Ein Schmerzensschrei, wie ich ihn noch nie von mir oder anderen gehört hatte, hallte durch den Raum und verlor sich in dem Gang über mir, der mich aus diesem Gefängnis führen sollte. Wimmernd lag ich auf dem Boden.
    Ich tastete meinen Unterkörper ab, die Taille, den Hüftknochen. Er war aufgeschrammt, aber das Holz hatte nicht meinen Bauch aufgespießt, was ich einen kurzen Augenblick befürchtet hatte.
    Bleib einfach liegen und schließe die Augen. Warte, bis er kommt. Arrangiere dich mit ihm. Tu, was er von dir verlangt, was auch immer es sein mag. Schließe die Augen. Schlafe. Richtig schlafen, nicht nur fünfzehn Minuten dösen.
    «Nein», hörte ich mich schreien, lauter als mein Schmerz gellten die vier Buchstaben. Nein. Nein. Nein.
    Eine Stimme antwortete mir. Fast hätte ich sie in meinem verzweifelten Jammern überhört.
    «Hallo.»
    Ich stand sofort auf den Beinen. Ich horchte. Im selben Moment stach der Schein der Lampen in meine Augen. Die Dunkelheit war so absolut, dass dieser erste Strahl jedes Mal unangenehm und erschreckend war, wenn ich die Augen bereits geöffnet hatte.
    Die Stimme. War er das gewesen? Nein. Bestimmt nicht. So kündigte er sich nicht an. Und es war ein schwacher Laut, eine gebrochene Stimme, die jetzt ein zweites Mal rief: «Ist da jemand?»
    «Ja», schrie ich mehrmals und rief in den Schacht: «Ich bin hier, ich bin Josie!»
    Es kam keine Antwort. Ich wartete. Für ein paar Herzschläge lang waren die Schmerzen verschwunden, das brennende Gefühl auf meiner Zunge, ich hatte mir daraufgebissen bei dem Absturz, alles war weg. Aber es antwortete niemand. Du hast es dir eingebildet, flüsterte etwas in

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