Unsichtbare Blicke
Stella.
«Ja», antwortete Muthaus. «Wenn sie wirklich seine Tochter ist. Das findet er nur durch einen DNA -Test heraus. Sollte er sich wieder getäuscht haben, finden wir auch Josie bald irgendwo.»
«Aber wo ist sie?», fragte Petra Kronen.
«Das erfahren wir nicht, solange wir ihn beschatten», seufzte Miki Saito.
Er hatte natürlich recht. Aber wenn sie ihn laufenließen und ein DNA -Test bei Josie negativ ausfiel, war das Mädchen so gut wie tot. In diesem Falle würden natürlich alle – Winterstein an vorderster Front – ihren Kopf fordern.
«Er wird uns nicht zu ihr führen, das wäre ja mal etwas ganz Neues», sagte Petra Kronen. «Fragt sich nur, wie lange sie durchhält. Hat sie was zu essen? Wasser?»
«Scheiße», stieß Stella hervor. Auf diese Idee war sie noch nicht gekommen. Wenn sie ihn mit ihrer Überwachung von seiner Gefangenen fernhielte, konnte er sie auch nicht mit dem Lebensnotwendigen versorgen. «Okay. Wir konzentrieren uns auf das Versteck. Lasst uns ein Raster entwickeln.»
«Dafür brauche ich Kaffee, viel Kaffee, starken Kaffee», sagte Muthaus.
Stella schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Sie waren seit siebzehn Stunden auf den Beinen. Die letzte Nacht hatte drei Stunden Schlaf gebracht, die davor nicht viel mehr.
«Morgen früh», beschloss sie. «Nach Hornhubers Bauernfrühstück sieht die Welt vielleicht schon anders aus.»
Sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde. Eine Viertelstunde später saß Stella alleine im Gemeindesaal. Das alte Gemäuer entwickelte in der Stille ein Eigenleben. Es knirschte und knackte im Gebälk, ein Fenster klapperte im lauen Wind, der aufgekommen war.
Stella durchstreifte das Haus auf der Suche nach dem Fenster und fand es am südlichen Ende des Gebäudes. Als sie es schließen wollte, hörte sie ein Quietschen, dann raschelte es, wieder fiepte etwas. Sie beugte sich hinaus: eine Igelfamilie. Ein Lächeln huschte über Stellas Miene. Sie sog die immer noch laue Nachtluft ein, verriegelte das Fenster und ging zurück in den Gemeindesaal.
Ich könnte ein Glas Rotwein brauchen, dachte Stella.
Sie löschte alle Lampen, schloss den Raum, der ihnen als Lagezentrum diente, ab und machte sich auf den Weg zum Goldenen Ochsen. Als sie ein paar Minuten später dort eintraf, fand sie ihre Kollegen in der Schankstube um einen groben Eichentisch versammelt. Den Wimpel, der ihn als Stammtisch der Schützenbruderschaft auswies, hatte sie auf die Theke gestellt. Unter dem mit Blumenmotiven bestickten Schirm einer tief hängenden Lampe brüteten die drei über einer Straßenkarte.
«Ihr seht aus, als wolltet ihr einen nächtlichen Raubzug planen», begrüßte Stella sie.
Muthaus prostete ihr mir einer Flasche Pilsener zu, Saito und Petra Kronen erhoben jeweils ein kleines Glas mit einer goldgelben Flüssigkeit.
«Wer Sorgen hat, hat auch Likör», sagte Saito. «Wir wissen nicht, was es ist, aber es schmeckt nach Alkohol und süß.»
Stella inspizierte den Weinschrank. Er war abgeschlossen.
«Momentchen», sagte Muthaus.
Er zückte sein Taschenmesser und brauchte genau fünf Sekunden. Der Schrank war offen.
«Die Polizei, dein Freund und Helfer!»
Der Spätburgunder, für den Stella sich entschied, verströmte einen satten und fruchtigen Geschmack, fast erinnerte er an Kirschen. Stella seufzte und nahm gleich einen zweiten Schluck.
«Schau mal», sagte Petra Kronen. Sie tippte auf die Karte. Drei Orte waren mit einem roten Kringel gekennzeichnet: Coburg, Weimar und Plauen. «Er hat die Mädchen über einige Wochen in seiner Hand gehabt. Insgesamt zieht sich die Sache schon seit fast zwei Jahren hin.»
An diese entmutigende Tatsache wollte Stella lieber nicht erinnert werden, aber sie nickte.
«Das Versteck muss also in einem überschaubaren Umkreis seines Lebensmittelpunkts liegen. Großzügig gerechnet können wir hundert Kilometer sagen, wahrscheinlich ist es aber weniger. Dieses Dreieck zwischen den drei Orten umspannt von einer Stadt zur anderen jeweils ungefähr diese Strecke.»
«Wir gehen davon aus, dass es im Osten liegt», ergänzte Saito.
«Wegen der Emaille?», fragte Stella.
«Ja, ich hab das noch einmal überprüft. Er kann Celine und Tania nur in etwas von ausreichender Größe ertränkt haben. Und es muss fest sein, keine Bottich oder etwas, das frei steht. Es muss ein Waschbecken oder Ähnliches sein. Groß genug und fest verankert. Emaille dieser Zusammensetzung kann nur in der ehemaligen DDR verwendet
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