Unsichtbare Blicke
kleinen Hügel hinter dem Kinocenter gesetzt. Die Bahn ratterte vorbei, auffällig viele geschniegelte Typen strichen durch die Büsche, was daran lag, dass die Ecke wohl ein Schwulentreff war, wie Felix mir erklärte, aber eigentlich war mir das alles egal. Selbst eine Karawane von Dromedaren hätte mich nicht gestört.
«Josie», drängelte Sarah, «ich will nichts von warmen Brüdern und Wüstenschiffen wissen.»
«Wir haben es getrieben wie die Tiere.»
Sarahs Kinnlade landete fast auf der Tischkante. Zweimal schnappte sie nach Luft, dann lehnte sie sich lässig im Stuhl zurück. «Du verarschst mich.»
Jetzt kicherte ich. «Wir haben über saure Gurken geredet.» Ich spürte, dass ich Sarahs Geduld zu sehr strapazierte. «Er hat mir versprochen, dass er mit mir in den Spreewald fährt, wenn wir in Berlin sind, und mir ein Glas Original-Spreewaldgurken kauft. Und wir haben geknutscht. Ein bisschen.»
«Geknutscht. Ein bisschen. Immerhin …» Sarah umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: «Endlich wird was aus dir.»
Ich fand mich zwar auch ganz in Ordnung, ohne mit Felix geknutscht zu haben, aber
mit
war alles einfach schöner. Wir hatten über dieses und jenes gesprochen; das meiste ging Sarah nichts an.
Warum er kein Fleisch aß, obwohl es ihm schmeckte, warum ich so selten auf Partys oder im
Blue Shell
im Nachbarort zu sehen war, wo alle anderen am Wochenende abends abhingen, dass er nach dem Abi ein Jahr irgendwo in einem Entwicklungsland verbringen wollte, über Berlin, wo er nach der Trennung seiner Eltern ein paar Jahre bei seiner Mutter gelebt hatte, wie schwer es ihm gefallen war, hier auf dem plattesten Land zurechtzukommen.
«Ich war seit dem Umzug zu meinem Dad nicht mehr dort», hatte er gesagt. In jeder Silbe steckte Schmerz darüber. «Ich hab mir immer gewünscht, dass meine Eltern zusammenbleiben, egal, wie, einfach zusammenbleiben, aber da war nichts zu machen, und ich hab Papa die Schuld in die Schuhe geschoben.»
«Ist er …», ich hatte Hemmungen, ihn so etwas zu fragen, aber ich tat es doch, «… hatte es mit einer anderen Frau zu tun?»
Felix schüttelte den Kopf. «Viel schlimmer. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Einfach so. Sie haben nicht mal gestritten, das kannste noch verstehen, oder rumficken mit anderen, okay. Aber einfach nix mehr miteinander zu haben, so still, dass du es selbst erst merkst, wenn es zu spät ist, ätzend. Eine Woche nach meinem fünften Geburtstag haben sie es mir gesagt.»
Vor drei Jahren war Krebs bei seiner Mutter festgestellt worden, der ihr nicht mehr viel Zeit gelassen hatte.
«Ich wollte weg, und meine Großeltern in Bologna oder Dornbusch standen zur Wahl. Oder eine Wohngruppe mit irgendwelchen Freaks, aber darauf hatte ich schon gar keinen Bock.» Er holte sehr tief Luft. «Ich bin zum ersten Mal wieder dort, wenn wir in ein paar Wochen nach Berlin touren.»
Ich zögerte, nahm dann aber seine Hand, die warm und ganz trocken in meiner lag. Mir fiel auf, wie gerötet und geschwollen die Knöchel waren. Er zuckte, als ich darüberstrich, entzog sie mir aber nicht.
«Vom Sandsack, hängt in meinem Zimmer, zum Boxen», sagte er und hob die Schultern, als wollte er sich entschuldigen. «Das tut oft gut. Aber manchmal auch weh.»
Erst jetzt beugte er sich zu mir rüber und küsste mich sehr vorsichtig auf die Lippen. Für Sarah wäre das natürlich nicht unter Knutschen verbucht worden, aber Sarah war halt kein Mädchen für die Zwischentöne, ihre Stärken lagen woanders. Der Satz, den er danach sagte, war mir hundertmal wichtiger: «Ich bin froh, dass du dabei bist … in Berlin, verstehst du?»
14 . September 1982
«Keinem trauen», hatte Monk ihm eingeschärft. «Keinem von ihnen darfst du trauen. Die Weißen sind unsere Feinde, sie sind schlecht.» Aber Tommi war sich nicht sicher, ob Monk immer alles wusste, alles besser wusste.
Bei der Frau mit den pechschwarzen Haaren, die alle nur mit Frau Doktor ansprechen sollten, durften sie manchmal Filme anschauen.
Indianerfilme.
Tommi hatte diese Filme schon gemocht, als er noch nicht zu Tommi geworden war. Wenn er in die Schule kam, hatten die Eltern ihm damals versprochen, dann durfte er schauen, dann.
Frau Doktor sah immer sehr streng aus und machte ihnen Angst, weil von ihrer Oberlippe bis zum Nasenloch eine Spalte klaffte. Sie war krumm und schief verwachsen, und Frau Doktor machte komische Geräusche beim Einatmen. Die ganz Kleinen weinten, wenn die Frau sich über sie
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