Unsichtbare Blicke
beugte. Auch wenn sie gar nicht schimpfte, sondern nett sein wollte.
Einmal hatte Tommi gesagt, dass die Frau ihm leidtat, da hatte Monk ihn geschlagen, mit der geballten Faust mitten ins Gesicht, auf die Nase und die Lippen, und gelacht.
«Jetzt siehst du wie sie aus!», hatte er gebrüllt.
Aber sie war keine richtige Weiße, sonst hätte sie nicht erlaubt, dass sie die Filme sahen.
In den Filmen waren die Weißen die Bösen, und die Roten waren gut. Auch wenn die Rothäute die Trecks der Siedler überfielen und alle zermetzelten, waren sie gut. Sie mussten das tun. Es war ihr Land.
Das war die wichtigste Frage, gehörte man zu den Weißen, oder war man ein Roter.
Nicht alle Kinder gehörten automatisch zu den Roten, das war klar. Viele gehörten nicht dazu und würden auch nie dazugehören, weil ein Verrat nicht mehr gutgemacht werden konnte. Es gab immer Verräter. Sie wurden nachher besser behandelt, kamen nicht in den Bunker, doch sie wussten nicht, wie es war, wenn die Roten sich rächten.
Auf Verrat stand die Todesstrafe. Das hatten die Roten beschlossen.
Tommi wusste, man durfte niemand töten. Er hatte es gelernt, bei der Sache mit dem kleinen Werner, aber er hatte bewiesen, dass er dazugehörte, ein Roter war. In der Zeit danach hatte er es wieder und wieder bewiesen.
Egal, was sie ihm angedroht hatten, er hatte nie einen anderen verpfiffen. Über vier Wochen am Stück hatte er einmal im Bunker gesessen, aber er hatte den Mund gehalten. Es war trotzdem herausgekommen, wie ihm und ein paar der älteren Jungs die Flucht gelungen war. Vier Tage hatten sie sich in den Wäldern durchgeschlagen, vier Tage und vier Nächte. Das waren die vier Wochen im Bunker wert gewesen.
Einer hatte die Sache mit der Kohlenrutsche ausgeplaudert. Sogar Monk hatte er im Verdacht. Er hatte sich gewundert, dass Monk nicht mitgegangen war. Er hatte doch am meisten davon geträumt und immer davon geredet.
Einer musste geplaudert haben, und als sie herausgefunden hatten, dass es Pienzi gewesen war, stand die Strafe schnell fest. Es gab kein Gericht. Monk hatte es entschieden.
Es musste bestraft werden. Mit dem Tod.
Das Kaninchen war noch ganz klein gewesen, aber Tommi hatte es tun müssen. Er war an der Reihe gewesen, und es gab nicht so viele Tiere auf dem Gelände. Wenn sie schon eins erwischt hatten, musste es getan werden. Beim letzten Mal war ihnen eine Elster ins Netz gegangen.
«Dreh ihm das Genick um», hatte einer der Jungs gezischt. Durch die Zähne. Leise, weil niemand auf sie aufmerksam werden durfte. Aber Tommi hatte gespürt, dass der Junge es gerne selbst gemacht hätte, sein Zischen machte Angst, er musste die Zähne aufeinanderbeißen, so sehr hätte der Junge das Tier gerne selbst in die Hände genommen.
Es war weich.
Er musste an Krokus, Glocke und Isi denken. Nicht, nicht, du darfst nicht an sie denken, dann kannst du es nicht tun. Flauschiges Fell kitzelte in Tommis Handflächen. Krokus hatte nicht so flauschiges Fell gehabt, keiner von den dreien. Das hier würde sowieso vom Fuchs gefressen, sie konnten die Füchse nachts hören, es war ja nur Wald drum herum.
Das hier zappelte und quietschte, er hatte nicht gewusst, dass die kleinen Wollknäuel Töne von sich geben konnten. Gezappelt, immer weitergezappelt hatte es, bis Tommi es fast verloren hätte, und da hatte er weit ausgeholt und es auf die Treppenstufe geschlagen. Aus dem winzigen Nasenloch lief Blut.
Monk hatte alles vorbereitet: die Konservendose, eine Drahtschlinge, die Rasierklinge.
«Fang das Blut auf», hatte der andere Junge gezischt.
Den Schnitt durch die Kehle machte immer Monk. Tommi hielt das Gefäß. Das Blut spritzte in kleinen Schüben und füllte die Blechdose, einiges ging daneben, es färbte seine Finger rot, hellrot, warm und glitschig.
Monk schnitt den Bauch des Tieres auf. «Mach schon», befahl er, und Tommi gehorchte. Er holte die Eingeweide heraus.
Dann stieg das Mittagessen auf. Erbseneintopf. Er mochte Erbseneintopf, aber er musste den ganzen Teller vor sich auf die Füße erbrechen.
Die anderen sprangen zurück, schimpften, einer stieß den Kelch mit dem Blut um, sie nannten die Dose den Kelch, einer hatte gesagt, in der Kirche hieße es Kelch und der Pfarrer trinke Blut daraus.
Sie mussten das Blut des Feindes trinken. Es machte sie stark.
Die Reste des Kaninchens legten sie auf das Bett des Verräters. Die Gedärme verteilten sie in seinem Schrank.
Es war ein Zeichen. Es war seine Hinrichtung. Es war die
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