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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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letzte Warnung.
    Niemand durfte aus der Gemeinschaft der Roten ausbrechen. Wer die Blutsfreundschaft aufkündigte, bekam nur die eine Warnung.

19
    Stella hatte vor fast achtzehn Jahren selbst vor der Entscheidung gestanden, ob sie das Würmchen, das in ihr heranwuchs, zur Adoption freigeben sollte. Genau wie eine Abtreibung war auch das nicht für sie in Frage gekommen; keinen Tag ihres Lebens mit Morten hatte sie diese Entscheidung bereut. Nachdem sie ihr letztes Schuljahr und ihr Abitur als junge Mutter überstanden hatte, war ihr danach alles wie ein Klacks vorgekommen.
    Die Berliner Stelle zur Vermittlung solcher Kinder lag in einem langgestreckten, aber nur zweistöckigen Gebäude aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Chic und hipp und weltstädtisch, die Attribute, die Berlin Mitte zugeschrieben wurden, galten hier nicht.
    Im Inneren der Behörde hatten die Architekten alles getan, um denen, die hier ihr Familienglück suchten, ein gutes Gefühl zu geben: Freundliche Pastellfarben dominierten, ein paar Pflanzen, die offensichtlich jemand ins Herz geschlossen hatte.
    Dieter Mommsen, der Leiter der Abteilung, erwartete Stella bereits. Stella vermutete, dass er selbst der Mann mit dem grünen Daumen war. Das Fenster seines Büros war hinter wuchernden Gewächsen kaum zu sehen.
    Er war ein paar Jahre älter als Stella, die hellbraunen Haare wellten sich über den Ohren. «Tut mir leid, dass Sie sich hierher bemühen mussten», begrüßte er sie.
    Als er aufstand, um Stella entgegenzukommen und sie in eine kleine Sitzgruppe aus safrangelben Sesseln und einem Zweisitzer zu begleiten, erwies er sich als Sitzriese. Im Stehen brachte er es kaum auf einen Meter und sechzig. Er bot Stella Platz auf dem Sofa an, setzte sich selbst in den Sessel und griff nach einem Schreibblock und Bleistift.
    «Wir haben da sehr enge Vorschriften, und das ist auch gut so. Es gibt immer mal Nachfragen, Bitten um Auskünfte, und nicht immer sind sie harmlos.»
    «Was bedeutet das?», fragte Stella.
    «Na ja, eine Adoption schneidet die betroffenen Menschen von ihrer Vergangenheit ab, gerade bei Kindern im Babyalter. Irgendwann kommen die Fragen, die nur notdürftig beantwortet werden können, bei anonymen Geburten und Kindern aus der Babyklappe gar nicht. Die Geschichte eines Menschen beginnt nicht mit der Geburt. Sie tragen nicht nur einen Mix von Aminosäuren in sich, die irgendein Zufall zu ihrer DNA zusammensetzt. Ob sich nun ein kollektives Gedächtnis darin wiederfindet, welche Rollen über Generationen in der Aufstellung einer Familie zugeteilt werden, sei dahingestellt, davon abgespalten zu werden ist so oder so ein massiver Eingriff in eine Lebensgeschichte.»
    Und manchmal ein entlastender, gar befreiender, dachte Stella.
    «Ich ermittele in einem zweifachen Mord. Tania Stecker und Celine Morgenthau, beide siebzehn Jahre alt, beide wurden in Berlin geboren und zur Adoption vermittelt.»
    Sie informierte Mommsen in wenigen Sätzen über die Hintergründe. Dieser notierte die Namen auf dem Block. Er seufzte, als sei ihm die Antwort auf seine Frage schon klar: «Kann es sich um einen Zufall handeln?»
    «Natürlich, kann es immer. Die unglaublichsten Zusammenhänge entpuppen sich gelegentlich als Zufall bei unseren Ermittlungen. Wenn allerdings die geringste Möglichkeit besteht, dass es keiner ist, gehen wir der Sache nach. Hier ist sie jedoch nicht so gering. Ich muss die Akten sehen, mit denen sprechen, die schon Anfang der Neunziger hier gearbeitet haben.»
    Konnte Mommsen ihr den Zugang zu den Akten verweigern? Stella hielt seinem kaum veränderten Blick stand. Spielte er mit dem Gedanken, ihr eine Abfuhr zu erteilen? Ich hätte mich genauer über die Vorschriften informieren sollen, dachte sie, am Ende braucht es dreißig Formulare und einen richterlichen Beschluss, und die Fahrt nach Berlin war umsonst gewesen.
    «Ob der zuständige Sachbearbeiter noch bei uns ist … mal schauen. Wir sind arg eingedampft worden in den letzten zehn Jahren. Wir müssen alle Unterlagen sechzig Jahre aufbewahren», sagte Mommsen. «Wer ein berechtigtes Interesse nachweist, bekommt auch Zugang zu seiner Akte.»
    «Gibt es häufig Anfragen dieser Art?»
    «Darüber führen wir keine Statistik, aber klar, es kommt vor. Wir raten den Adoptiveltern, frühzeitig mit den Kindern zu sprechen, aber es gibt natürlich auch noch Fälle, wo einer bei der Anforderung seiner Abstammungsurkunde für die Hochzeit große Augen macht. Die

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