Unsichtbare Blicke
größte Zahl der Fälle sind sowieso Stiefkindadoptionen. Kleinkinder und Babys machen den weitaus geringeren Teil aus.»
«Wonach suchen Sie die Eltern aus?»
«Nach dem Wohl des Kindes.»
«Und woran bemisst sich das?»
«Die Eltern sollten nicht zu alt sein, sie sollten in geordneten Verhältnissen leben, was natürlich auch heißt: Sie müssen sich ein Kind leisten können, ihm halbwegs gute Entwicklungschancen, Bildung und so weiter ermöglichen. Wir entwickeln ein Profil, bei dem es allerdings am Ende auch auf unser persönliches Urteil ankommt. Es gibt keine Schablone.»
«Dann ist es auch Geschmacksache?»
«Das hört sich so negativ an. Wir geben unser Bestes, um eine gute Lösung für das jeweilige Kind zu finden. Manchmal dauert das auch.»
«Wenn Eltern einem Sachbearbeiter oder einer Sachbearbeiterin nicht gefallen, heißt das am Ende aber doch: Geschmacksache.»
«Es entscheiden immer mehrere darüber.»
Ein eindeutiges «Nein!» hörte sich anders an, aber Stella fragte nicht weiter nach. «Die Akten?»
Stellas Erwartung, dass er mit ein paar Klicks die notwendigen Informationen aus einer Datenbank im Computer aufrief, wurde enttäuscht. Mommsen schüttelte den Kopf. Dann könne man die Adressen der abgebenden Eltern und der neuen Familien auch gleich auf einer Tafel am Alexanderplatz anschlagen. «Alle Akten werden in guten alten Registraturen im Aktenschrank aufbewahrt. In unserem Netzwerk finden Sie nur anonymisierte Datensätze.»
Er führte Stella durch eine Nebentür in einen Flur, der parallel zu den öffentlich zugänglichen Räumen lief. Von heimeliger Atmosphäre spürte man hier nichts mehr. Am Ende des Gangs klopfte er und betrat, ohne auf eine Antwort zu warten, den Raum. Gegenüber der Tür am anderen Ende des großen Zimmers stand eine gepflegte Frau mittleren Alters, die hinter ihrem Rücken eine Zigarette aus dem geöffneten Fenster schnippte. Sie wedelte verlegen mit der Hand durch die Luft.
«Katrin», tadelte Mommsen sie halbherzig.
Auch in diesem Zimmer wies ein Hinweisschild auf das Rauchverbot in öffentlichen Räumen hin.
«Wir brauchen die Akten von diesen Vermittlungen.» Er legte den Zettel, auf dem er die Namen notiert hatte, hin. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Begleiterin nicht vorgestellt hatte. «Katrin Möller, gute Seele des Archivs und überhaupt das organisatorische Rückgrat dieser Einrichtung. Frau von Wahden ermittelt in einer Serie von Straftaten … Morden.»
Katrin Möller zog sich die Jacke enger um den Körper. «Oh Gott, jemand von … kennen wir … hat es etwas mit …»
«Es ist keiner aus dem Haus hier betroffen», beruhigte Stella die Frau, was vielleicht eine Auskunft war, die sich am Ende der Ermittlungen nicht halten ließ.
Die nervöse Suche der Frau wurde begleitet von weiteren Erläuterungen ihres Vorgesetzten zum Adoptionsverfahren, den Problemen bei Kindern, die in einer Babyklappe abgegeben wurden, wo immer zunächst auch eine mögliche Straftat ausgeschlossen werden musste, oder bei der zunehmenden Zahl von Mädchen aus anderen Religionen und Kulturen, bei denen schon der Gedanke an den Vorgang, der zu einer Schwangerschaft führte, einen sogenannten Ehrenmord zur Folge haben konnte.
«Wir erleben hier viel Glück, aber vorher auch oft viel Leid. Es gibt durchaus Vorkommnisse, bei denen Mitarbeiter einer Adoptionsstelle mit einem Vater, der die Herausgabe seines Kindes forderte, stundenlang festsaßen. Mit einem Springmesser diskutiert es sich schlecht.»
Nach einer Weile präsentierte sie die Akten.
«Celine Morgenthau und Tania Stecker, beide aus einem Jahrgang. Ich erinnere mich sogar noch an die kleine Celine, erinnern ist zu viel gesagt, an den Namen, nicht an das Kind. Morgenthau, weißt du, Dieter, wie der Plan von den Amerikanern nach dem Krieg. Ist das Mädchen, sind beide …?»
«Gibt es ein Zimmer, in dem ich in Ruhe mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sprechen kann, die mit diesen Adoptionen befasst waren?»
«Das Büro von Sabine?», fragte sie vorsichtig, biss sich aber sofort auf die Lippen, als Mommsen ihr einen verärgerten Blick zuwarf.
«Herr Mommsen, wir lassen alle notwendige Diskretion walten», versuchte Stella, ihn zu beruhigen, «aber wir haben zwei tote Menschen, junge Menschen, denen all Ihre Mühe, ihnen ein neues Zuhause, einen Start ins Leben zu ermöglichen, wahrscheinlich von einem Psychopathen genommen wurde. Seine Identität steckt möglicherweise irgendwo in diesen
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