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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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müsse. Letztendlich wollte er jedoch nichts wirklich wissen. Er wollte reden, alleine, sich mitteilen.
    Je mehr er plapperte, desto fester krallten sich meine Finger um den Brief. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ihn an die Brust drückte, wie einen Schatz, den mir niemand entreißen durfte.
    «Oh, Liebespost», sagte der Mann. «Sehr schön, ich benutze die auch immer.»
    Ich starrte ihn an.
    «Duftbriefmarken», erklärte er. «Ich bevorzuge Maiglöckchen, die riechen wie echte …» Plötzlich vertröpfelte sein Redefluss. Nur noch ein verdrücktes «… fast» schickte er hinterher.
    Schweiß presste sich nun aus allen meinen Poren. Er lief über meine Stirn, unter den Achseln blühte ein dunkler Fleck auf, ich spürte, wie Tropfen entlang der Wirbelsäule krochen. Kerzengerade drückte ich den Rücken durch, atmete die verbrauchte Luft, die das Innere des Busses füllte, durch den Mund. Nichts riechen, auf keinen Fall, nicht jetzt, nicht den muffigen Opa mit Fotoapparat und Maiglöckchenbriefmarken.
    Josie. Still. Josie, Josie, Josie.
    «Ist Ihnen nicht gut, Fräulein?»
    Das
Fräulein
war zu viel.
    Ich dränge mich an ihm vorbei. Der Umschlag fiel auf den Schoß des Mannes. Er erschreckte sich und plusterte sich kurz auf, sodass der Inhalt des Briefes sich auf seine Beine, in den Gang, unter den nächsten Sitz ergoss. Ich raffte danach.
    Fotos. Fünf, sechs oder mehr. Meine Panik war zu groß, um Details zu erkennen, aber was ich sah, reichte.
    Bugsie rief nach hinten, irgendetwas, ob alles in Ordnung sei oder so.
    «Ja», rief ich, «nein, ich muss raus.»
    Der Mann sammelte die Bilder von seinem Schoß, unsere Köpfe stießen zusammen, als wir beide das zu seinen Füßen Gelandete zwischen den Sandalen hervorklauben wollten. Erst jetzt nahm ich den fast unbehaarten Schädel des Mannes wahr, auf dem sich hier und da die Haut pellte, andere Stellen leuchteten rot, verbrannt von der Sonne. Ekel überkam mich.
    Ich suchte den Mittelgang mit Blicken ab, ein weiteres Foto und eines, das mir die Frau aus der Bank vor mir anreichte, ich stolperte durch den Gang, die Tasche blieb an einer Armlehne hängen, Fahrgäste maulten, weil ich sie an die Schultern stieß.
    Bugsie hatte die nächste Haltestelle erreicht. Ich stürzte vornüber auf die Betonfläche, die das Wartehäuschen trug. Der rechte Handballen schrammte über die raue Fläche, brennender Schmerz wallte von dort in mein Hirn; ich spürte die Kiesstückchen in der Wunde. Wieder lagen die Bilder verstreut vor mir.
    «Mädchen, Mädchen», hörte ich Bugsies Stimme im Bus. «Du machst Sachen. Bisschen vorsichtiger sein, hörst du? Brauchst du Hilfe? Den Verbandskasten holen?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Übelkeit», brachte ich mit Mühe hervor.
    Eine Frau war ebenfalls ausgestiegen und reichte mir eine Flasche Wasser. «Kannst du behalten», sagte sie und stieg wieder ein. Bugsie setzte den Blinker. Der Bus war weg. Ich sammelte die Fotos ein.
    Felix und ich vor der Nationalgalerie auf den Stufen der Treppe, wo er meine Hand hält und den Kopf auf meine Schulter legt. Felix und ich auf der kleinen Insel im Spreewald, Felix und ich auf der Decke, Felix, der die Hand unter meinen Pulli schiebt. Felix und ich. Halbnackt. Nackt. Wie er in mich eindringt.
    Er war überall in der Nähe gewesen. Er war uns sogar in die verlassenste Ecke dieses Auenwaldes gefolgt, und wir hatten es nicht bemerkt. Natürlich nicht, wir hatten ganz andere Sachen im Kopf. Es war so schön gewesen.
    Ich verstaute die Fotos in der Tasche. Ein Schluck Wasser spülte den metallischen Geschmack von meiner Zunge. Tränen strömten über mein Gesicht, während ich den Rest des Weges zum Altenheim zu Fuß ging.
    Die Mutter Oberin erwartete mich am Kücheneingang. Sie schaute mich eine Weile an.
    Als sie meine Hand, an der das Blut schon getrocknet war, in Augenschein nahm, schüttelte sie nur den Kopf. Ich erwartete eine Bemerkung, vielleicht sogar, dass sie mich nach Hause schickte, aber sie fasste mich an den Schultern. Ihre Bewegungen hatten immer etwas Ungelenkes und meist Ungeschicktes; auch jetzt drückte sie ein wenig zu fest. Der Klang ihrer Stimme war völlig frei von Missbilligung oder Tadel. Echte Sorge lag darin, als sie fragte: «Was ist passiert, Josie?», und ich hatte das Gefühl, sie meinte nicht die Schrammen an meiner Hand. «Wenn du mit mir reden möchtest oder vielleicht mit einer der anderen Schwestern, sind wir jederzeit für dich da, das weißt du doch?»
    Ich

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