Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
Vom Netzwerk:
nickte.
    «Auch in Dingen, die nichts mit dem Heim, deiner Arbeit hier zu tun haben.»
    «Danke», sagte ich, mehr brachte ich nicht raus. Was sollte ich auch sagen? Eine Nonne war sicher die Letzte, die kapierte, was für einen Mist ich gemacht hatte. «Ich bin gestolpert. Mit einem Pflaster ist alles in Ordnung.»
    Die Mutter Oberin durchquerte die Küche mit schnellen Schritten, wobei der Rock ihrer Kutte sich blähte und ein paar fedrige Pollen, die der Wind hineingeweht hatte, aufwirbelte. An der Seitenwand eines Geschirrschranks hing ein Erste-Hilfe-Kasten.
    «Nicht gerade vorschriftsmäßig, aber komm her», befahl sie mir. Mit einer Hand ergriff sie die meinige, mit der anderen drehte sie den Wasserhahn an der Spüle auf und säuberte die Wunde; das getrocknete Blut löste sich und vermischte sich mit dem Staub und den Steinchen darin. Ich zuckte ein wenig zurück, als sie es mit einem Stückchen Mullbinde trockentupfte. «Jetzt zippt es noch einmal», warnte sie und sprühte Desinfektionslösung auf die rote, zerschundene Stelle. Zum Schluss klebte sie ein Pflaster darauf.
    Es tat so unendlich gut, sie einfach machen zu lassen.
    «Geh dich umziehen», sagte sie endlich. «Du übernimmst heute den Zimmerservice im dritten Stock, in Ordnung?»
    Ich lächelte sie an. Ja, das war sehr in Ordnung. Die Betreuung der Senioren, die im großen Saal aßen, konnte nervenaufreibend sein. Es war laut, jeder verlangte Aufmerksamkeit, gleichzeitig und sofort, Zankereien der Bewohner waren an der Tagesordnung. Die acht alten Leute im dritten Stock waren ans Bett gefesselt oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, mit den Übrigen zu essen.
    Zwischen der Ausgabe der abendlichen Medikamente und dem Zubettbringen der Bewohner in den anderen Stockwerken nutzte ich eine kurze Pause, um in den fensterlosen Raum neben der Waschküche zu flitzen, wo die Hilfskräfte und Angestellten von außerhalb sich umziehen konnten. Ich öffnete meinen Spind, den ich mit einem eigenen Schloss gesichert hatte. Warum, wusste ich nicht mehr, aber ich hatte das vorhandene Schloss nach der ersten Woche hier gegen ein eigenes ausgetauscht. Ich holte mein Adressbuch und rief Sarah von dem Apparat in der Küche an.
    Sie musste im Laufe des Tages zurückgekommen sein, aber ihre Mailbox sprang an.
    «Ich muss mit dir sprechen, ich muss dich sehen, bald, sofort, noch heute, nach der Arbeit, komm bitte!», sprach ich ihr hastig und atemlos aufs Band.
    Zum Ende meiner Schicht stand sie unten an der Auffahrt zum Altenheim. Sie lehnte an ihrem Roller, tippte auf ihrem Handy herum. Die Straßenlaterne ein paar Meter weiter tauchte alles in ein oranges Licht, das die Farben verwischte. Sarahs Urlaubsbräune hatte einen Grauschleier dadurch, aber man sah selbst bei diesen Verhältnissen, wie viele Stunden sie am Hotelpool verbracht haben musste.
    Ich war so froh, sie zu sehen.
    «Ich habe Sven versetzt, nach zwei Wochen in dieser türkischen Rentnerburg.» Sie stockte, schaute zum Stift hinüber und lachte. «Na, ein bisschen jünger waren sie schon als deine Gespenster hier. Also, was gibt es so Schlimmes, dass ich heute Nacht ungeknutscht ins Bett gehen werde?»
    «Kannst du mich nach Hause bringen?»
    «Oh nein, es ist so ein schöner Abend, und du willst in deinen Kerker?»
    «Ich muss dir etwas zeigen.»
    Sie zuckte die Achseln und kramte den zweiten Helm aus dem Kasten unter dem Sitz. Während der Fahrt lehnte ich den Kopf an Sarahs Rücken und schlang die Arme um ihren Bauch. Ich fühlte mich wie ein Affenbaby, das sich auf einem Streifzug durch den Urwald an seiner Mutter festklammert. Der Fahrtwind streifte über meine Arme, in meinen Ohren rauschte und sauste es. Zum ersten Mal hatte ich keine Angst auf diesem Gefährt mit der manchmal zum Wahnsinn neigenden Pilotin. Kurz vor unserem Haus verlangsamte Sarah das Tempo.
    «Wir wollen deine Eltern ja nicht in den Herztod treiben», rief sie gegen den Fahrtwind an.
    «Die sind nicht da», beruhigte ich sie.
    «Hey, wird das eine Pyjama-Party?»
    Ich spürte plötzlich, wie nervös Sarah war. Das wohlige Gefühl auf dem Rücksitz der Vespa war schlagartig verschwunden. Vielleicht, brach sich ein Gedanke Bahn, weiß sie, um was es geht. Die Fotos, wer sagt mir, dass es nicht jemand aus meiner Nähe ist, der sich ein gemeines Spiel mit mir erlaubt? War Sarah zu so etwas fähig?
    Stopp, schrie ein anderer Teil in mir, das ist doch paranoid!
    «Komm rein», sagte ich bloß und führte Sarah direkt in mein

Weitere Kostenlose Bücher