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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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den Satz ab.
    Die Eltern standen an der Tür. Aus der Küche strömte der Duft nach Gebackenem. Tommi wurde fast übel davon, so süß, so schwer, so unerreichbar war dieser Geruch. Er erinnerte sich daran, Zimtschnecken, Mutter hatte im Winter Zimtschnecken gebacken, nicht oft, immer, wenn sie Zimt hatte ergattern können, was nicht so schrecklich oft gewesen war, oder wenn Tante Hetti welchen ins Paket gepackt hatte. Aber dann hatte sie das Gewürz immer weggepackt.
    Zimtschnecken hatte es immer nur im Winter gegeben. Kirschkuchen im Sommer, zu seinem wirklichen Geburtstag. Zimtschnecken im Winter.
    Er lehnte sich zurück. Zu seinen Füßen breitete sich ein feuchter Kreis um die Turnschuhe herum auf dem Teppichboden aus. Brauner Teppich. Braune Fliesen.
    Die Frau trocknete immer weiter ihre Hände an einem Küchenhandtuch ab. «Ich habe Zimtschnecken gebacken», sagte sie.
    Aber nicht für mich, dachte Tommi.

29
    Stella parkte den Ford in der Einfahrt.
    «Wir hätten vorher anrufen sollen», sagte Saito.
    «Hätte, hätte, Herrentoilette», knurrte Stella, die ihrem Partner natürlich recht geben musste. «Ich habe es hundertmal versucht, aber die scheinen nicht mal einen Anrufbeantworter zu haben.»
    Das Haus unterschied sich in fast nichts von den meisten Backsteinhäusern der Gegend, außer dass es keinerlei Hinweise auf kleine Kinder gab; kein Spielzeug oder Bobbycar lag in der Einfahrt, keine Aufreihung bunter Gummistiefelchen auf der Fußmatte, wie weiter oben an der Straße, wo die Häuser noch dichter beieinanderstanden.
    Das Haus lag etwas zurückgesetzt, von der Straße war das Grundstück kaum einsehbar. Auf der Klingel neben der Haustür stand kein Name, aber die Hausnummer stimmte. Über dem Rahmen aus massivem Eichenholz hing ein Holzstich in einem schmalen, goldenen Rahmen.
    «Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch», las Stella. «Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.» Dürers betende Hände schmückten das Ganze, und in kleinen Buchstaben war die Quelle des Verses vermerkt: Hebräer 4 , 12 – 13 .
    «Dann wäre das ja mal klar», sagte Saito. «Ich weiß schon, warum ich froh bin, dass ich nicht zu dem Verein gehöre.»
    Bei dieser Bemerkung fiel Stella auf, wie wenig sie über Saito wusste. Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob er sonntags um zehn Uhr brav das Hochamt besuchte oder zu Hause vor einem schintoistischen Schrein Räucherstäbchen anzündete.
    Sie drückte die Klingel. Im Inneren dudelte ein Dreiklang mehrmals hintereinander. Niemand öffnete. Stella schellte noch einmal, ein drittes Mal, drückte gegen den Türgriff und klopfte einmal. Es tat sich nichts. Sie umrundeten das Haus, versuchten, einen Blick durch die rückwärtige Tür zu werfen. Eine Lamellenjalousie und eine Gardine verhinderten den Einblick, an den Fenstern waren die grauen Rollläden hinuntergelassen.
    Ein Ruf von Saito holte Stella zurück auf die Frontseite. Er stand vor dem Garagentor und deutete auf den Griff. «Uraltes Modell», stellte er fest. «Soll ich mal?»
    Stella schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, Horst Sonnleitner oder irgendwem sonst zu erklären, warum sie durch eine noch so schlecht gesicherte Garage in sein Haus spaziert waren.
    «Sieht alles nach Urlaub aus.»
    «Ja, vielleicht ist das gar nicht schlecht», sagte Stella. Überzeugt klang das nicht. Stella machte sich Sorgen.
    Die Überprüfung der Akten aus der Berliner Adoptionsstelle hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Wie Tania und Celine waren allerdings nur zwei weitere Kinder, ein Junge und ein Mädchen, anonyme Geburten gewesen. Berlin, siebzehn Jahre, anonym geboren.
    Stella wusste, dass ihre Theorie auf tönernen Füßen stand. Sie hatten zur Sicherheit alle Familien kontaktiert und gewarnt. Bei keiner hatte es besondere Vorkommnisse gegeben, der ebenfalls anonym geborene Junge befand sich gerade zu einem Schüleraustausch in den USA .
    Die letzte Akte hatte zu einem Mädchen namens Luisa gehört, Jahrgang 1994 , in Berlin geboren, adoptiert von einem Paar aus Potsdam, das unter dem registrierten Namen, Welz, nicht aufzufinden war. Sie hatten ihren Namen geändert, augenscheinlich völlig legal und aktenkundig, trotzdem hatte es einige Anstrengungen gebraucht, um die neue Identität und ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Sie waren

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