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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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wollten sie haben, er hätte genug davon, ein Paar könne er haben, das sei man den armen Schweinen von drüben doch schuldig, und alle hätten doch eigentlich geglaubt, dass man den Kleinen nie mehr wiedersehe, da wären ein paar ausgelatschte Nikes doch das Mindeste. Rolf sprach das Wort breit und englisch aus.
    Er hatte kein Englisch gelernt. Nur ein bisschen Russisch.
    «Du bist gar nicht klein», hatte Rolf gesagt, «ganz schön groß sogar.»
    Er hatte nicht viel gesagt.
    «Unser Rolf ist ein guter Junge», hatte Tante Hetti gesagt, aber Tommi hätte ihn am liebsten genau wie alle die anderen, die das Maul zu weit aufrissen, mit dem Kopf in einen Waschtrog gesteckt oder ihm den Schlauch in den Arsch geschoben und gewartet, wie ihm die Scheiße an den Beinen herunterlief.
    Die Turnschuhe hatte er aber genommen.
    Bei jedem Schritt drückten sie an den Zehen. Es erinnerte ihn daran, dass man sich nie etwas schenken lassen sollte, wenn man den Preis dafür nicht kannte. Rolfs arrogante Scheiße war ein verdammt hoher Preis gewesen, und Onkel Wulf war nicht viel besser.
    «Du rufst sie besser an», hatte er gesagt, «die rechnen nicht mit dir, die sind da nicht drauf eingestellt.»
    Sie gaben ihm die Adresse, und er fuhr los, und dann hatte er vor dem Haus gestanden. Es hatte einen Holzbalkon im ersten Stock. Aus dem Schornstein stieg weißer Rauch auf, es roch nach verbranntem Holz; als er sich der geschnitzten Haustür mit dem Gitter und den bunten Glasscheiben in der Mitte näherte, mischte sich der Duft von frisch gebackenem Brot oder Kuchen dazwischen.
    Ein Mädchen kreischte, zuerst fröhlich, dann genervt und dann wütend. Sie wollte etwas sehen, jemand anderes schaltete das Fernsehprogramm immer wieder um. Im dritten Fenster auf der rechten Seite flackerte das bläuliche Licht, bis es erlosch und nur noch eine Stehlampe ihren gelblichen Schein in den Garten warf. Eine Männerstimme sorgte für Ruhe.
    Tommi erkannte sie sofort.
    «Wenn wir hochgehen, dann gnade uns Gott!», waren die letzten Worte gewesen, die er von dieser Stimme gehört hatte. Das war viele Jahre her.
    In der Mitte einer kreisrunden Messingscheibe wartete der Klingelknopf. Darüber hing ein selbstgemachtes Schild; es war aus einer sandfarbenen Masse geformt, zwei Erwachsene, ein Junge und ein Mädchen, ein paar Sonnenblumen und eine Ratte, die wohl einen Hund darstellen sollte.
    Hier wohnen Petra, Thorsten, Lilli, Tim und Wasti, stand darauf. Von dem «W» war ein kleines Stück abgebrochen.
    Tommi überlegte kurz, ob er das Schild abreißen und es weit in den Schnee hinausschleudern sollte.
    Er hatte es geahnt. Nein. Gewusst. Er hatte es gewusst.
    Nach dem 9 . November waren bald die Ersten von drüben gekommen. Sie hatten so lange vor dem Heim gewartet, bis jemand das Tor geöffnet hatte, bis ihr Malte oder Klausi rausgerückt wurde. Andere Väter und Mütter, die auch hochgegangen waren, denen es mit ihren Kindern ähnlich wie Tommi ergangen war. Sie hatten keine Wochen gewartet, bis sich Malte oder Klausi selbst auf den Weg machte.
    Er drückte den Knopf. Eine Melodie ertönte.
    Das Mädchen, das sich so bitter darüber beschwert hatte, warum Tim MacGyver anschauen durfte und sie nicht, öffnete die Tür. Sie war vielleicht sieben Jahre alt, trug einen mollig weichen Jogging-Anzug aus hellrotem Plüsch und nur eine dicke Wollsocke. Den nackten rechten Fuß klemmte sie hinter die linke Wade. Sie schaute Tommi wortlos an, streckte ihm plötzlich die Zunge heraus und hüpfte schnell auf einem Bein über die braunen Fliesen, um im Haus zu verschwinden.
    Ein Mann streckte den Kopf durch die erste Tür im Gang. «Lilli, wer ist …» Mehr sagte er nicht.
    Tommi wartete.
    Der Mann bat ihn nicht herein, stattdessen holte er ein paarmal tief Luft.
    «Petra», rief er in den Raum hinter sich.
    Tommi überschritt die Schwelle. Seine nassen Turnschuhe schmatzten auf den Fliesen, sie hinterließen eine Spur aus Schneematsch, Splitt und Salz, als er den Flur durchquerte, ins Wohnzimmer ging, wo Lilli sich unter einer Wolldecke versteckte.
    Der Junge kraulte einen fetten Hund mit langem schwarzem Fell.
    Er hatte sich auch einen Hund gewünscht, aber nie einen bekommen.
    «Was machst du hier?», fragte der Junge.
    «Bist du Tim?», fragte er.
    Der Junge nickte.
    Tommi schob ihn beiseite und setzte sich in den Ohrensessel direkt neben dem prasselnden Kamin.
    «Das ist Papas Sessel», sagte der Junge, «da darfst du nicht …»
    Tommis Blick würgte

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