Unsichtbare Blicke
Sonnleitner. Ich fahre morgen noch einmal nach Berlin.»
32
Er war ein hohes Risiko eingegangen, aber er wusste, dass alles andere noch gefährlicher gewesen wäre. Er hatte auch nicht mehr warten können. Alles war mit ihm durchgegangen, da waren die Fotos gewesen, der Gedanke, dass sie sich wegwarf, das hatte er unterbinden müssen, deswegen war ihm alles ein bisschen außer Kontrolle geraten.
Dass er nun beide Mädchen am Hals hatte, war ein Problem.
Er konnte sie nicht ewig in diesem Zustand halten, er wollte es auch gar nicht. Das Mittel war gut dosiert, die Mädchen schliefen meistens, aber länger als ein paar Tage konnte es so nicht gehen. Seine Urlaubstage waren gezählt; dann würde er sie nicht mehr rund um die Uhr bewachen können. In aller Kürze musste der Alltag Einzug halten.
Ein paar Tage brauchte er schon alleine, um Josie an ihr neues Leben zu gewöhnen. Das war nicht von heute auf morgen zu machen. Noch ein Unglück wie mit dem anderen Mädchen durfte nicht passieren.
Das Vergnügen, einmal wirklich und wahrhaftig durch Josies Zimmer zu gehen, war das Risiko allerdings wert gewesen. Sie hatte nicht damit gerechnet. Schlaue Mädchen waren sie, daran bestand kein Zweifel. Wie im Fernsehen lief es nicht, das hatten sie kapiert. In den eigenen vier Wänden hatten sie allerdings nicht mit ihm gerechnet.
Sein Lachen schallte durch den kleinen Raum, laut und befreiend. Von allen Aktionen war es die riskanteste gewesen.
«Damit habt ihr nicht gerechnet», rief er aus vollem Hals. Er musste sich gar nicht in Acht nehmen, sie würden nichts hören, sie schliefen tief und fest, und selbst, wenn sie wach wären – es drang kein Laut aus ihrem Zimmer und auch keiner hinein.
Ihr Zimmer. Josies Zimmer. Geh auf dein Zimmer, Kind. Tochter.
Sie wollte sicher nicht mehr Kind genannt werden, daran musste er sich gewöhnen. Tochter. Tochter, hörte sich so förmlich an.
Geh auf dein Zimmer, Josie. Du musst endlich dein Zimmer aufräumen, Josie.
Ja, Papa, aber es ist mein Zimmer, und wehe, du schnüffelst rum!
Natürlich, wir vertrauen einander, du bist alt genug, um zu wissen, was gut für dich ist, aber ein bisschen Ordnung muss sein.
Er würde ihr vorschlagen, dass sie ihn beim Vornamen nannte. Er wollte ein moderner Vater sein.
Und er musste sich überlegen, was er mit dieser Sarah anstellte.
Was gibt es zu überlegen, dachte er.
Sie hat nichts zu suchen in unserem Haus. Sie gehört nicht zu uns. Sie muss weg, je eher, desto besser. Doch wie würde Josie reagieren? Bei den anderen war es schon schwer genug gewesen, ihnen klarzumachen, warum sie bei ihm sein mussten. Wenn er nun das andere Mädchen wegschaffte, würde seine Kleine es sicher nicht einfach so hinnehmen.
Vielleicht würde er ihr sagen, dass er sie freigelassen hat.
«Sarah ist längst wieder zu Hause», flüsterte er. «Genau wie du. Endlich zu Hause.»
Josie war zu klug, um das zu glauben, aber sie würde es hinnehmen müssen. Sie würde schon verstehen, dass Sarah nur störte. Er sollte alles vorbereiten, um diese Sarah loszuwerden.
33
Stella sammelte ein paar Gläser ein, stellte sie auf den Servierwagen und nahm sich eines der übrig gebliebenen Brötchen. Das Salatblatt hing müde herab, der Rand der Käsescheibe war bereits eingetrocknet. Sie warf es zurück auf die Platte.
Die anderen hatten bis auf Miki den Konferenzsaal verlassen.
«Es muss bald Bewegung in die Sache kommen», seufzte Saito.
Stella gab nur ein leises Knurren von sich, das alles bedeuten konnte. Bewegung, ja, aber auf ganz und gar andere Art und Weise, als sie es sich gewünscht hatte. Dieser verdammte Meyerdonck in Berlin hatte mit seiner Wichtigtuerei die entscheidenden paar Tage gekostet. Wenn sie die Akten sofort bekommen hätte, wären die Mädchen jetzt nicht weg. Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass die Vorgeschichte der Mädchen sie weiterbringen würde.
«Ich hätte mich durchsetzen müssen», seufzte sie.
«Womit?», fragte Miki.
«Egal», sagte Stella, aber es war nicht egal. «Ich muss raus hier.»
Ihre Einladung, irgendwo noch etwas zu trinken, draußen am besten, nahm Miki an. Er schlug den Biergarten am Weiher vor.
«Den Menschen beim Leben zuschauen?», grinste Stella. «Beim
echten
Leben? So mit Freunden und rumalbern und abhängen und so?»
«Ich weiß nicht genau, was du meinst, aber so etwas soll es geben. Als Polizisten müssen wir lernen, uns in die Gewohnheiten und Vorlieben der Bürgerinnen und Bürger
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