Unsichtbare Blicke
Sie hob den rechten Arm und legte ihn über seine Schulter, mit der Hand stützte sie sich am Holm ab. Der schmale Träger ihres Shirts rutschte auf der anderen Seite ein wenig herunter. Sie trug einen gelben Büstenhalter. Ihre Achsel war nicht rasiert.
Die Ausdünstungen des Mädchens stiegen ihm in die Nase, Schweiß, Bier, Sonnenöl. Trotzdem war die Haut auf ihrem Schlüsselbein rot und pellte sich, säuerlicher Schweiß und noch etwas, das er nicht zuordnen konnte, vielleicht kaum es von dem Aromabäumchen, das am Rückspiegel baumelte, vielleicht von ihr.
Sein Schwanz wurde steif.
«Fester», hörte er das Mädchen hinter dem Steuer sagen.
Er schaute sie verwirrt an.
«Die klemmt. Die Karre ist schrottreif, aber ich kann sie fahren, bis dass der
TÜV
uns scheidet.»
Sie hatte ihn aufgefordert, die Tür noch einmal fester zuzuschlagen, er hatte es nicht mitbekommen. Die Beifahrerin beugte sich weit über seinen Schoß, schlug die Tür mit Wucht noch einmal zu und grinste ihn an, als sie sich aufrichtete.
Sie hatte schöne Augen und rote Haare, dunkelrot, er hatte noch nie so rote Haare gesehen.
«Warst du auch auf dem Festival?», fragte sie.
Er erklärte ihr, dass er Sanitätsdienst gehabt habe. Er plapperte los wie ein Idiot, wie viele Leute bei einem Einsatz dieser Art dabei sein mussten, über fehlende Klos und dass die meisten zu wenig Wasser tränken. Er redete und redete, gab der Fahrerin ein- oder zweimal die Richtung vor, bis der Toyota vor der Hütte am Waldrand anhielt.
«Ganz schön einsam hier», sagte die Rothaarige.
«Ja, meine Eltern haben es von einem Verwandten günstig bekommen, damals, als sie …», er begann zu stottern, «aber sie … sie sind nicht da …» verdammt, es war doch egal, ob sie da waren oder nicht, er benahm sich wie ein Fünfzehnjähriger, «… sie sind drüben, in Gera, bei Verwandten, anderen Verwandten, die Hütte gehört quasi mir, ich wohn da …»
«Seid ihr Ossis?», unterbrach ihn die Fahrerin.
«Nein … ja … in dem Weiher kann man schwimmen … wollt ihr schwimmen?»
Die Rothaarige lachte. «Schwimmen ist gut», sagte sie.
36
Stella stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
«Nach Melissas Anruf bin ich schnell hoch in den dritten Stock und habe die Notizbücher entstaubt.» Ellen Lotter pochte auf das ledergebundene Buch in ihrem Schoß. «Ich führe mein eigenes Tagebuch, zu jeder Geburt gibt es Einträge. Mal mehr, mal weniger, das kommt darauf an.»
Die Hebamme kramte eine Lesebrille aus den Falten ihres Gewandes und setzte sie auf die Nase. Das Geburtsdatum, der Vorname des Kindes, der später in Josefa geändert wurde, ebenso der Name, den die Mutter angegeben hatte, der sich aber als falsch herausgestellt hatte: Alles stimmte.
«Lena Bruckner, sagten Sie, ist der Name?»
«Ja, eigentlich Helena. Das Mädchen hat den 18 . August als ihr Geburtsdatum angegeben, den Gedenktag der heiligen Helena, und einen falschen Nachnamen, das machten sie oft: nur das Nötigste lügen», erklärte Ellen Lotter. «Die Geburt war sehr lang und schwierig, und irgendwann habe ich dann doch den richtigen Namen erfahren. Ich hab das immer aufgeschrieben, wenn ich solche Mädchen hatte», und als ob sie Stellas nächste Frage erriet, fügte sie hinzu: «Das ist nicht ganz vorschriftsmäßig, ich weiß.»
Aber vielleicht rettet es in diesem Fall ein Leben, dachte Stella.
«Sie hatte eine Freundin dabei», die Hebamme warf noch einmal einen Blick in das Buch, «Mareike, auch ein schöner Name.»
Sie erinnerte sich so gut an die Mädchen, weil sie so unterschiedlich gewesen waren. Mareike, die verzagt gewirkt hatte, voller Zweifel, und der man sofort angesehen hatte, was später passieren sollte. Ihre Freundin Lena hingegen war entschlossen gewesen, fast schon kalt, wenn man das beim Zustand während einer Geburt überhaupt sagen konnte.
Aber gleich nach der Geburt war dieses eisige Gefühl wieder durchgeschlagen, als habe sie auf Nummer sicher gehen wollen, bloß keine Bindung zu dem Würmchen aufbauen.
«Na, ein Würmchen war die Kleine nicht, oh nein, ein echter Brummer. Gequält hat sie ihre Mutter, das kann ich Ihnen sagen. Sie war arg mitgenommen nach der Geburt, aber sie hat ihren Plan durchgezogen: Am nächsten Tag war sie weg, und das Jugendamt war am Zug.»
Mehr konnte Ellen Lotter nicht sagen. Stella verabschiedete sich von ihr. Vor der Tür zückte sie ihr Handy, um Saito anzurufen. Das Display des Geräts lag stumm und dunkel
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