Unsichtbare Kräfte
Dunkel seiner Erinnerung. Waren das nicht dieselben Züge, die er täglich im Gefängnis sah? Die Züge des Mannes, dessen Bild in der ganzen Union als das eines Verbrechers verbreitet war?
Mechanisch drehte er sich um. Da tauchten die beiden drüben gerade in der vorbeiflutenden Menge unter. Unwillkürlich ging sein Auge in die Runde. Polizei? Kein Wachmann zu sehen!
Aber er brauchte ja nur hinterherzulaufen oder Alarm zu schreien. Der Name »Wildrake« würde wie eine Bombe zwischen die Arbeitermassen fallen. Da tauchte vor ihm das Bild der Gefangenen von Nr. 17 auf. Ein warmes Gefühl wurde in ihm wach, doch schnell unterdrückte er es. Der Richtung zur Stadt folgend, schritt er mechanisch neben dem Arbeiterstrom her, ließ seine Augen suchend über die Reihen gleiten.
Winterloo blieb plötzlich stehen. Edna, die Schwester Wildrakes, im Gefängnis! Wollte der Bruder sie etwa befreien?
Er schüttelte den Kopf. Unmöglich! Der Plan wäre Wahnwitz. Einen Augenblick erwog er den Gedanken, mit Tejo, seinem Nachfolger, zu sprechen. Doch ebenso schnell verwarf er ihn wieder. Seine Beziehungen zu Alfonso waren schon längst nicht mehr die alten. Nichts verband ihn innerlich mit dem Manne, dem er nur nähergetreten, weil er der Bruder Victorias war. Die Verlobung mit Victoria Tejo - ihr Tod bei dem großen Brand ...
Er wunderte sich über sich selbst, wie er fast gleichgültig daran dachte. Und doch war ihm Victoria einst teuer gewesen.
An der Ecke der rua Principal angekommen, wo sich der Weg nach dem Fort und zu seiner Stadtwohnung hin teilte, schritt er ohne Zögern die rua larga entlang, seiner Behausung zu. Und in seinem Zimmer trat ihm Alfonso Tejo entgegen.
Kaum, daß sie sich begrüßt hatten, begann der: »Du bist aus dem Heeresdienst entlassen? Ich sah das Schriftstück offen auf dem Schreibtisch liegen.«
Winterloo nickte.
Ein argwöhnischer Zug auf Tejos Gesicht. »Du hast selbst den Antrag gestellt?«
Winterloo verneinte. »Ich hatte nur Urlaub erbeten. Offen gesagt, ist mir aber die Entlassung nicht unwillkommen. Etwa noch länger Fortkommandant sein zu müssen - mich schaudert bei dem Gedanken!«
»Nun, du fandest doch anscheinend in dem Verkehr mit den Insassen des Gefängnisses ganz angenehme Abwechslung!« unterbrach ihn Tejo. »Besonders der Gefangenen von Nr. 17 schien ja dein Interesse zu gelten.«
Winterloo trat mit unwilligem Gesicht auf Tejo zu.
»Ich weiß nicht, was du mit deinen wiederholten Anspielungen meinst, Alfonso! Daß ich mit einer Person, die nach meiner Ansicht völlig unschuldig gefangengehalten wird, Mitleid habe, kann mir niemand verbieten. Auch du nicht!«
»Über die Unschuld dieser Madonna wird das Gericht, das übermorgen zusammentritt, urteilen, lieber Freund! Bis dahin gilt sie für jeden als eine gefährliche Intrigantin.«
»Alfonso, ich bitte dich, ein anderes Gesprächsthema zu wählen! Wie ich über die Schuld Edna Wildrakes denke, ist meine Angelegenheit.«
»Ich weiß, daß du dich des Andenkens meiner toten Schwester, deiner Braut, in keiner Weise würdig zeigst.«
Winterloo schritt ein paarmal tief atmend in dem Raum auf und ab. Nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es ihm, sich zu beherrschen. »Nur die Erinnerung an deine teuren Angehörigen, an unser bisheriges freundschaftliches Verhältnis hält mich ab, dir so zu antworten, wie es sich geziemte. Ich bitte dich, für heute unsere Unterredung als beendet anzusehen!«
»Ha! Du weisest mich hinaus? Gut! Ich gehe. Doch das eine noch sei dir gesagt: Ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich dieses Weib und ihren Bruder dahin gebracht habe, wohin sie gehören. Hüte dich, daß sich unsere Wege in Zukunft dabei kreuzen!«
*
»Das ist jedenfalls keine angenehme Nachricht, Mr. Droste, daß dieser Tejo wieder Fortkommandant ist und den Befehl über das Gefängnis hat. Der Kerl ist gefährlich. Die Bewachung wird schärfer sein.«
Der Hafenarbeiter, der vor kurzem die Aufmerksamkeit Winterloos erregt hatte, sprach diese Worte. Droste nickte. »Um so mehr freue ich mich, diesem Kerl einen Schabernack spielen zu können, Mr. Wildrake. Ich habe trotzdem keinen Zweifel, daß unser Plan gelingt. Doch was sagen Sie zu der merkwürdigen Entdeckung, daß der Vorgänger Tejos ein Hauptmann Winterloo war? Sie erinnern sich doch, wie der Onkel davon sprach, daß er Auftrag gegeben habe, in Venezuela und Brasilien nach dem Verbleib der Familie Winterloo zu forschen? Welch ein sonderbares Spiel des Zufalls!
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