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Unsichtbare Spuren

Unsichtbare Spuren

Titel: Unsichtbare Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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sie kann nur mit Hilfe laufen, sie muss gefüttert werden, und sonst? Na ja, sie stiert eigentlich den ganzen Tag von morgens bis abends entweder aus dem Fenster oder in die Glotze. Ob und was sie davon wahrnimmt, kann keiner sagen. «
    » Das ist ein tragisches Schicksal, aber ich versteh immer noch nicht, was du oder ich damit zu tun haben. «
    Sie ließ einen Moment verstreichen und flüsterte Carmen etwas ins Ohr. Ohne Henning anzusehen, sagte sie schließlich, während sie Carmen weiter liebevoll streichelte: » Carmen ist meine Schwester. Das hier ist ein privates Pflegeheim, weil weder meine Eltern noch ich sie in eine geschlossene Anstalt geben wollten. « Sie presste für einen Moment die Lippen zusammen, dann fuhr sie fort: » Was immer Carmen auch durchgemacht hat, es war die Hölle, und keiner von uns kann sich das vorstellen, aber wir wollten unter allen Umständen verhindern, dass sie in ein sogenanntes normales Pflegehei m k ommt, wo sie mit zwei oder drei andern Frauen auf einem Zimmer liegt, wo man sich nur notdürftig um sie kümmert und der Rest ihres Lebens, wie lange der auch dauern mag, auch noch beschissen ist. Wir hätten sie natürlich auch zu Hause behalten können, aber eine erwachsene Frau mit allem Drum und Dran zu pflegen, das wäre für meine Eltern zu viel gewesen. «
    » Warum hast du mir nie davon erzählt? «, fragte Henning mit belegter Stimme, stellte sich mit dem Rücken ans Fenster und betrachtete Carmen genauer, die ihn jedoch nicht zu beachten schien.
    » Weil es meine Privatangelegenheit war und ist. Ich wollte keinen von euch mit meinen Problemen belasten. Aber ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dass ihr auch mal etwas mehr über mich erfahrt, vor allem du. Ich komme mindestens jeden zweiten Tag her, sofern es mein Dienstplan erlaubt. Als das damals passiert ist, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Mein Gott, ich war fünfzehn und Carmen meine große Schwester. Wir haben uns phantastisch verstanden, ich konnte mit ihr über alles reden. So ähnlich, wie es wohl auch bei Heike und Miriam war. Aber ob du ’ s glaubst oder nicht, damals ist in mir der Wunsch gereift, zur Polizei zu gehen und Leute hinter Gitter zu bringen, die andern solches Leid zufügen. Meine Eltern wären an der Situation fast zerbrochen, sie haben sich zum Glück aber wieder gefangen. Sie zahlen jeden Monat zweitausend Euro, meine Großeltern tausend, und ich steure auch meinen Teil bei, den Rest übernimmt die Pflegekasse. «
    » Hat man die Schweine je gefasst? «
    » Nein, die laufen immer noch frei rum. Sie haben wahrscheinlich Familie, Kinder, ihre eigene heile Welt eben. « Santos machte eine Pause, legte ihren Kopf an Carmens Schulter und fuhr fort: » Sie war siebzehn und mit Freunden unterwegs. Di e h aben sich aber so besoffen, da wollte sie nicht mehr mit ihnen im Auto fahren. Eine ehemalige Freundin erinnerte sich, dass sie ein Taxi nach Hause nehmen wollte, aber es wurden alle Taxifahrer im Umkreis befragt, doch keiner hat sie in jener Nacht mitgenommen. Kann sein, dass sie versucht hat heimzulaufen, die Disco war maximal eine Stunde zu Fuß von unserm Haus entfernt, aber Genaues weiß man nicht. Keiner hat gesehen, zu wem sie ins Auto gestiegen ist, ob es freiwillig geschah oder sie gezwungen wurde. Es gibt bis heute keine Spuren und auch keine Hinweise. Das war am 12. Mai 1984, ein Samstag. «
    Henning atmete ein paarmal tief durch und wollte sich gerade eine Zigarette anstecken, doch Santos schüttelte den Kopf .
    » Bitte, nicht hier. Warte, bis wir draußen sind. Ich will nur noch ein paar Minuten bei ihr sein. Wenn ich nur wüsste, was sie denkt und was sie fühlt, was sie wahrnimmt und mir gerne sagen würde. Doch seit fast zwanzig Jahren ist da nichts mehr. Nur manchmal habe ich das Gefühl, als würde sie mir gerne etwas mitteilen, manchmal lächelt sie, wie vorhin, als wir reingekommen sind, mehr ist aber nicht drin. Es mag sich hart anhören, doch ich hab mich nicht nur einmal gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sie wäre gestorben. Dann wieder gibt es Zeiten, da bin ich bei ihr und merke, wie gut ihr die Besuche tun. Meine Eltern kommen auch fast jeden Tag, obwohl sie mit dem Restaurant eine Menge zu tun haben … Tja, das war’s, was ich dir mitteilen wollte.«
    »Was sagen die Ärzte, wie lange sie noch …«
    »Du kannst es ruhig aussprechen. Das kann keiner sagen. Aber Carmen ist körperlich fit, sie wird regelmäßig untersucht, und es ist durchaus

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