Unsortiertes
Angehörige immer als erster Zeuge
aus.“ Die Regelung war mir neu, aber ich bin auch kein Jurist. „Aber viel
konnte ich dem Gericht über Enrico auch nicht erzählen, ich hatte ja schon seit
Anfang 2005 keinen Kontakt mehr zu ihm. Ab und an klingelte er zwar kurz durch
oder schrieb eine Karte, die letzte kam zu Ostern 2007 aus Düsseldorf, aber das
war es dann auch schon. Die Sache mit dieser Nadine war komplett neu für mich,
er hat sie nie mit einem Wort erwähnt.“
„Hör mir bloß mit der Tante auf! Wenn ich nur daran denke: Dein Bruder
nackt auf ihr und voll in Aktion?“ Ich schüttelte mich. „Mir rollen sich noch
heute die Zehennägel auf. Nichts gegen Frauen, aber die hätte man erst in
Domestos baden sollen, die war so … ne … die Bettwäsche, in denen es die beiden
…, die habe ich sofort verbrannt! Aber ich habe dich unterbrochen; Entschuldigung!“
„Kein Problem. Auf der Rückfahrt nach Brandenburg wurde mir eins klar:
Ich kannte mein Bruder und das Leben, das er führte, gar nicht. Auch wenn es
sich jetzt dumm anhört, aber ich wollte ihn wieder kennenlernen. Deshalb rief
ich den Staatsanwalt an und habe mir den Terminplan geben lassen.“ Auf seinem
Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung.
Ich lächelte ihn sanft an. „Das hört sich gar nicht so abwegig an, ich
hätte es genauso getan. Aber ich kann nicht verstehen, wie dein Bruder diesem
Ben auf den Leim gehen konnte: Um solche Männer hat er früher immer einen
riesengroßen Bogen gemacht.“
„Das glaube ich dir sofort, aber viel über Enricos Leben habe ich nicht
erfahren, wenn ich ehrlich sein soll. Ich kam dann zur zweiten Prozesswoche
wieder, hatte mir hier eine kleine Pension gesucht, aber die erste Woche konnte
man total vergessen, da machten nur die Leute von der Polizei und der
Spurensicherung ihre Aussagen.“ Er tupfte sich den Mund ab. „In der zweiten
Woche wurde es dann interessanter, aber das erwies sich, im Nachhinein, auch
als Reinfall. Es ging nicht mehr um meinen Bruder, sondern nur noch um diesen
Ben! Tja, dann erwähnte der Freier die Vernissage in Essen und nannte deinen
Namen und das Enrico wohl deine Muse gewesen wäre. Der eklige Verteidiger
sprang sofort darauf an und bestand auf deiner Ladung. Dann war eine Woche
Pause, ich bin wieder nach Hause und gestern dann zurück. Eigentlich sollten in
zwei Tagen die Plädoyers erfolgen, aber wie jetzt der Zeitplan aussehen wird,
weiß ich auch nicht, ich werde mich überraschen lassen.“
„Wer war denn der Freier?“ Neugierig war ich zwar nicht, aber wissen
wollte ich es schon.
Der angehende Student grübelte kurz. „So ein geschniegelter Lackaffe,
ziemlich affektiert, gegelte, schwarze Haare, einfach nur bah! War hier mal in
der Lokalpolitik tätig, wohl ein ziemlich hohes Tier, ist dann aber nach einem
Skandal in der Versenkung verschwunden. Der Name? Moment, ich habe es gleich!
Josef war der Vorname, dann irgendein Baum … Buche oder so!“
„Joseph Hainbucher?“ Ich schaute ihn irritiert an.
Er kratze sich am Kinn. „Ja, so hieß er! Kennst du ihn?“
„Leider! Ich sollte für ihn und seine Gruppierung ‚Unser Köln‘ mal
Wahlkampfaufnahmen machen, aber den Auftrag habe ich dankend abgelehnt: Ich
mache keine Bilder für Nazis!“ Ich atmete tief durch. „Der Typ ist nach außen
hin biederer Familienvater, aber schwul wie ein Rudel Friseure. Dass der an
Enrico Interesse hatte, wundert mich nicht: Für einen langen Schwanz ging der
meilenweit!“
Er grinste verschmitzt. „Dann hätte ich also Chancen gehabt?“
„Bestimmt, aber nicht nur bei dem!“ Ich lachte ihn an.
Der straßenköterblonde Brillenträger stutzte. „Bei wem denn noch?“
„Der Typ am Nebentisch starrt uns die ganze Zeit schon an.“ Ich deutete
mit dem Finger in die Richtung. „Mich kann er wohl nicht meinen, das ist wohl
eher deine Liga.“
Justin schaute sich diskret um. „Meinst du den Monteur in dem blauen
Overall?“
„Nein, den blassen Typ am Tisch daneben. Scheint wohl Anwalt zu sein,
denn über dem freien Stuhl liegt eine Robe.“ Ich grinste. „Wenn er Richter oder
Staatsanwalt wäre, würde er wohl nicht mit dem Juristenkittel durch die Gegend
laufen, oder?“
„Das klingt logisch! Ich kann es ja mal versuchen!“ Auch der angehende
Student griente.
Ich verdrehte die Augen. „Willst du etwa in Enricos Fußstapfen treten?“
„Um Gottes Willen! Ein
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