Unsterbliche Lust
lange, aber mein Mühen hatte sich gelohnt.
Ich glaube, es war eine Vorahnung, die mich unbewusst getrieben hatte. Und mit diesem Gefühl der Vorahnung schlich ich nun den Korridor entlang und die Treppe hinunter. Ich musste zu meinem Geliebten!
Ich schlüpfte durch die Hintertür und rannte auf die Behausungen der Arbeiter zu. Und was musste ich dort sehen? Einen schwarzen Wagen und drei Männer. Der eine war mir fremd, der andere war mein Cousin, und der dritte – oh, wie warm wurde mir ums Herz, als ich den vertrauten Geliebten sah! Aber schon im nächsten Augenblick schnürte sich mein Herz zu, denn ich begriff, dass sie Johnny gewaltsam in den Wagen hievten.
Deutlich konnte ich die Stimmen hören, am lautesten klang die meines Cousins. Er traktierte meinen Johnny mit Schlägen und rief dabei: «Und das Beste ist, dass Amelia jetzt mir gehört! Du bist aus dieser County verbannt. Im Einflussbereich von Lord Asher bist du nirgends mehr sicher. Von nun an bist du so gut wie tot, John Blakeley!»
Die Tür wurde krachend zugeworfen, und dann rollte der Wagen davon, während die beiden Männer im Haus verschwanden. Ich rannte mit tränenden Augen hinter dem Wagen her, hoffte wider besseres Wissen, ihn einzuholen. Oder vielleicht würde er anhalten, wenn der Kutscher mich sah? Doch die Pferde waren schneller als ich, und als sich die Himmel öffneten und der Regen herunterprasselte, musste ich einsehen, dass mein Geliebter verloren war – für mich verloren für immer. Und ich hatte nicht einmal mehr seine Stimme hören können.
Meine Beine konnten mich nicht mehr tragen, ich war zu schwach, ich wollte auch nicht mehr, und dann fiel ich hin, schluchzte Johnnys Namen, bis ich keine Stimme mehr hatte. Ich lag die ganze Nacht da draußen, denn als ich mich sanft aufgehoben fühlte, dämmerte der Morgen.
Es war ausgerechnet mein Vater, der mich aufhob. Er sah mich an, sein Gesicht aschfahl, und er sagte nichts außer immer nur diesen einen Satz: «Mein Kind … genau wie deine Mutter …» Er nahm mich auf seine Arme und trug mich ins Haus zurück und ins Bett. Clarice sollte mir ein Bad bereiten und mir heißen Tee bringen.
Der Arzt ist hier gewesen, und sie wollen mich glauben machen, dass ich bald wieder gesund bin. Vater sagt, ich sollte mich nicht grämen, ich bräuchte Gareth nicht zu heiraten. Ich soll nur gesund werden, denn es scheint, dass ich sehr krank bin.
Ich will nicht gesund werden. Ich will sterben. Diese paar Seiten, die ich jetzt geschrieben habe, haben den letzten Rest meiner Kraft gekostet. Immer wieder musste ich das Schreiben unterbrechen, wenn mich ein Hustenanfall quälte. In meiner Brust sitzt ein Kloß, der mir das Atmen erschwert.
Die Briefe an meine geliebte Anna sind zu einem kurzen Tagebuch meiner Liebe und meines Leidens geworden. Heute Abend muss ich in die Bibliothek schleichen, um diese Seiten zu verstecken.
Ich werde sie neben den neuen Roman von Mrs. Radcliffe stellen. Sie wird in diesem Haus viel und gern gelesen, deshalb bin ich sicher, dass bald jemand diese Zeilen über mein trauriges Schicksal findet.
So liegt es an dir, wer auch immer du sein magst, der diese Geschichte liest, meinen Johnny für mich zu finden! Sage
ihm, dass ich in Liebe zu ihm gestorben bin, dass ich aus freien Stücken gestorben bin und dass mein letztes Wort sein Name sein wird. Ich ersuche dich, geneigter Fremder, der diese Geschichte liest – finde meinen Johnny Blakeley für mich, seine verzweifelte, sterbende Amelia!
Sasha wachte erschrocken auf. Sie wusste nicht, wie lange sie in ihrem Bett gelegen hatte. Die Nachttischlampe brannte noch, und auf ihrem Gesicht spürte sie Tränen. In den Händen hielt sie Amelia Ashers Manuskript. Blinzelnd schaute sie auf die Uhr. Halb vier. Sasha legte die vergilbten Seite behutsam auf den Nachttisch und strich mit einer Hand glättend über jedes Blatt. Sie seufzte, drückte das Licht aus und legte sich auf die Seite. Sie brauchte ihren Schlaf, denn morgen hatte sie über eine Menge nachzudenken.
Viertes Kapitel
«Ich fühle mich, als lebte ich in einem altmodischen Schauerroman.»
Es war Montagmorgen, zwei Tage nach Sashas Rückkehr aus England, und sie und Xenia schlenderten die Fifth Avenue hinunter, der Rockefeller Plaza entgegen. Trotz der dunklen Sonnenbrillen blinzelten sie in das gleißende Licht. Sasha hatte ihre Freundin gefragt, ob sie sich zum Mittagessen treffen könnten. Sie konnte es kaum erwarten, ihr von den Ereignissen der
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