Unsterbliche Lust
letzten Tage zu berichten.
Als Leiterin der Personalabteilung einer großen Finanzierungsfirma hatte Xenia ein feines Gespür für Menschen und ihre Krisen. Sie wusste Auswege und kannte Lösungen, und wenn ihre Erfahrungen nicht ausreichten, dann konnte man sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen. Xenia hatte einen scheinbar nie versiegenden Vorrat an Verständnis, an feinen Weinen und gutem Essen.
«Du siehst wirklich verändert aus», sagte Xenia zu Sashas Überraschung. Seltsam, sie selbst hatte auch geglaubt, dass sich irgendetwas in ihr verändert hatte: Sie fühlte sich energiegeladen und voller Lebenskraft, und ihre Wangen fühlten sich an, als glühten sie. Aber sie hatte nicht vermutet, dass andere es wahrnehmen könnten.
Wenn ich es recht bedenke, sehe ich aus wie eine Frauim ersten Stadium des Frischverliebtseins, dachte sie lächelnd. Und genau das schien auch Xenia zu denken, denn sie stupste die Freundin in die Seite und fragte wissend: «Komm schon, erzähle von deiner heißen englischen Affäre!»
Sasha blieb stehen und schaute die Freundin forschend an. Die schwingende Intensität, die durch ihren Körper summte, schien tatsächlich erotischen Ursprungs zu sein, aber sie glaubte nicht, dass Paul etwas damit zu tun hatte. Sasha hatte eigentlich keine Erklärung dafür, und sie glaubte auch nicht, dass sie Xenia von ihrem leidenschaftlichen Interesse an einer traurigen Liebesgeschichte aus dem späten achtzehnten Jahrhundert überzeugen konnte. Aber sie würde es versuchen.
«Gehen wir essen», sagte sie ausweichend. Sie zeigte auf einen Hot-Dog-Stand an der Straßenecke. «Seit ich zurück bin, habe ich Heißhunger auf so was.»
Erst als die beiden Frauen sich auf die Treppe gesetzt hatten, die zur Eisbahn führte, wo sie darauf achteten, dass ihre Kleidung nichts vom Sauerkraut oder Senf abbekam, begann Sasha zu erzählen. Sie erzählte die ganze Geschichte, begann mit Amelias gespenstischer Stimme und baute auch ihr Abenteuer mit Paul ein, weil ihr dabei bewusst geworden war, dass Paul den Geist gar nicht wahrgenommen hatte.
Sie beschrieb die merkwürdige Vertrautheit, die sie vor dem Porträt Amelias empfunden hatte, ihr klopfendes Herz, als sie John Blakeley auf dem Bild entdeckt hatte, und schließlich das unbehagliche Gefühl im Aufzug, kurz bevor sie das Manuskript entdeckt hatte. Und dann die Faszination beim Lesen der Geschichte.
«Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich irgendwie …nun ja, mitten in dieser Geschichte drin bin», sagte Sasha, «ich stehe zwischen der toten Frau und ihrem Freund.» Verlegen sah sie Xenia an. «Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, vielleicht eine verrückte Idee, aber ich identifiziere mich mit dieser Frau … man könnte auch sagen, ich sei besessen von ihr und ihrem Freund … was auch immer es ist, ich kann sie nicht aus meinen Gedanken verbannen.» Eine Weile schwieg Xenia. Ab und zu tätschelte sie Sashas Schenkel mit einer Hand, während sie den Senf von den Fingern der anderen Hand leckte. Sie sagte immer noch nichts, trank nur ab und zu die Cola durch einen Strohhalm. Sasha schaute sie mit steigendem Unmut an.
«Nun?» Die Frage klang trotzig und herausfordernd, während Xenia wieder am Strohhalm saugte. «Hast du nichts dazu zu sagen?»
«Sasha, meine Liebe», murmelte Xenia, «was soll ich sagen? Das ist irgendeine Verrücktheit, das ist alles. Zu vergleichen mit der dummen Schwärmerei für irgendeinen Popstar in deiner Kindheit. Oder wie du heute hechelnd eines der männlichen Models anhimmelst, wenn du beim Casting das gutgeschnittene Gesicht und den knackigen Hintern siehst. Warum regst du dich so auf? Du glaubst, eine Geisterstimme gehört zu haben, und du bist über ein vergilbtes Manuskript gestolpert …»
«Ich habe nicht
geglaubt
, eine Stimme zu hören», unterbrach Sasha die Freundin. «Ich habe sie wirklich und wahrhaftig gehört. Amelia war an jenem Abend in meinem Zimmer.»
Xenia verdrehte die Augen. «Sasha, Liebste», sagte sie in diesem nachsichtigen Tonfall, «hast du nicht selbst gesagt, dass nicht einmal Paul diese Stimme gehört hat?»
«Aber das gehört dazu – das ist die Eigenart des Spuks!» Sasha konnte sich kaum beruhigen. «Amelia erscheint nur Frauen! Verstehst du das denn nicht? Ich glaube, ich war … oh, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … es war mir bestimmt, das Manuskript zu finden. Es ist, als ob jemand absichtlich diese Seiten ins Regal gelegt
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