Unsterbliche Lust
Sasha sich nach dieser Weihnachtsfeier fünfundvierzig Minuten lang auf ein wildes Petting mit einem Kollegen eingelassen hatte, wusste Heather auch – denn es war auf der Rückbank ihres Autos geschehen.
Angesichts ihrer spontanen Vertrautheit fiel es Sasha schwer, Heather als Sekretärin und Untergebene zu behandeln; sie erteilte ihr nur ungern minderwertige Aufgaben, wann immer es ihre Zeit erlaubte, erledigte Sasha sie selbst – was dazu führte, dass Heather sich über Arbeitsmangel beklagte.
Als Sasha den Notizzettel nahm, den Heather zwischen den Fingern hielt, fragte sie sich, wie viel ihre Assistentin über ihre Beziehung mit Paul wusste oder ahnte. Sie warf einen Blick auf den Zettel.
Treffe Sonntagabend in New York ein.
Brauche Unterkunft.
Irgendwelche Anregungen?
Gespenster und Hotels, in denen es spukte, schienen eine Ewigkeit entfernt zu sein von Manhattan, dachte Sasha. Sie ließ sich in ihren Drehsessel fallen, lehnte sich zurück und streifte ihre Schuhe ab. Sie drehte sich ein paar Runden mit dem Sessel und spürte ein neuerwachtes Interesse an Paul, das ihren Bauch wärmte.
Vielleicht ist Paul genau die richtige Medizin für mich, um mich zurück in die Realität zu holen, dachte sie, während sie die neuen Verkaufsstatistiken überflog, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten.
Konnte sein, dass Xenia recht hatte. Diese ganze Spukgeschichte war Unsinn. Ich sollte sie aus meinem Lebenverbannen und mich auf das konzentrieren, was wichtig ist. Schließlich, mahnte sie sich fast wütend, habe ich einen vielbeneideten Job, um den sich Tausende von Marketingleuten reißen würden.
Dazu – sozusagen als Sahnehäubchen obendrauf – hatte sie eine stürmische Affäre mit einem englischen Klienten. Das sollte eigentlich reichen, um ihre Gedanken zu beschäftigen. Da brauchte sie keine unglückliche Liebesaffäre zwischen zwei Menschen, von denen sie vorher noch nie gehört hatte – und die schon lange tot waren.
Entschlossen schaltete sie den Computer ein, aktivierte die E-Mail und beantwortete Pauls Anfrage.
Sashas gute Absichten, ihre Faszination über die Geschichte von Amelia Asher und John Blakeley zu verdrängen, hielten nicht lange an. Da schien es andere Kräfte zu geben, die sich offenbar gegen sie verschworen hatten.
Obwohl sie die ganze Woche lang bis in die späten Abende hinein arbeiten musste, weil sie Pauls Besuch vorbereitete, nahm sie sich Zeit, am Samstagabend mit Xenia in einen neuen Comedy-Club im Greenwich Village zu gehen, und nach einem gelungenen Abend begleitete Xenia sie nach Hause. Sie wollte sich das Manuskript von Amelia Asher anschauen.
Beide Frauen waren nicht mehr ganz nüchtern und lachten ausgelassen, teils in der Erinnerung an die witzigen Sketche, die sie gesehen hatten, teils aber auch, weil ihnen in ihrem Zustand alles zum Lachen war.
Erst als Sasha in ihr Schlafzimmer ging, um das kostbare Manuskript für die Freundin zu holen, wurde ihrbewusst, dass ihre ausgelassene Fröhlichkeit nichts mit dem New Yorker Humor und auch nichts mit dem Alkohol zu tun hatte.
Sie war schlagartig nüchtern, als sie nach den vergilbten Blättern griff, die sie oben auf den Kleiderschrank gelegt hatte. Mit einer gewissen Ehrfurcht gab sie das Manuskript in Xenias Hände.
«Oh», sagte Xenia und strich andächtig über das gelbe Papier und das ausgefranste rote Band. «Das also ist die tragische Geschichte.»
Sasha sagte nichts, sie nickte nur und setzte sich der Freundin gegenüber auf die kakaofarbene Ledercouch. Nervös nippte sie am Pfirsichtee, den sie aufgebrüht hatte. Sie streckte die Beine aus und verschränkte die Füße um ein Bein des Glastischs, während sie Xenia gespannt beobachtete, die rasch die einzelnen Blätter überflog.
«Nun?» Sasha saß wie auf heißen Kohlen und konnte die Spannung nicht länger ertragen.
Xenia blickte kurz von ihrer Lektüre auf.
Sasha fragte voller Hoffnung: «Kannst du jetzt begreifen, warum ich diese Geschichte so faszinierend finde?»
«Es ist gewiss ein bemerkenswertes Dokument», sagte Xenia nachdenklich. Sie legte die Blätter zusammen.
Sasha atmete erleichtert auf. Sie erwartete, dass ihre Freundin jetzt das Gefühl des Unheimlichen mit ihr teilte, aber dann sah sie, wie Xenia sie scharf musterte.
«Aber ich glaube, das ist auch schon alles», fuhr Xenia fort. «Ein Dokument von historischem Interesse, aber eben nur ein Dokument, das dir zufällig in die Finger gefallen ist, während du in einem
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