Unsterbliche Lust
eine Hand auf Sashas Arm und drückteihn leicht. «Weißt du, Sasha, du bist zwar erst wenige Tage hier, aber ich habe das Gefühl, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich werde dich vermissen.»
Sasha lehnte den Kopf an die Schulter der jüngeren Frau. «Ich vermisse dich auch, Rosie», sagte sie traurig und schob den Teller von sich. «Ich habe den Teller geleert wie ein braves Mädchen», sagte sie abrupt. «Kann ich jetzt einen Whisky haben, mit dem ich mich für die Reise stärke?»
Rosie brachte den Whisky und setzte sich wieder zu ihr. Als Sasha nach der Rechnung fragte, schüttelte Rosie energisch den Kopf.
«Komm schon, Rosie, sei nicht albern. Ich muss für das Zimmer zahlen und fürs Essen und Trinken.»
«Also gut», meinte Rosie schließlich, «das Geld für das Zimmer nehme ich, aber Essen und Trinken ist mit eingeschlossen.»
Auf diesen Kompromiss einigten sie sich. Rosie half Sasha beim Packen und Laden. Dann standen sie dicht nebeneinander auf dem Parkplatz, und niemand wollte mit dem Abschied beginnen. Es war Sasha, die ihre Arme um Rosie schlang und ihr zuflüsterte: «Jetzt gehört Johnny wieder dir, Rosie.»
Rosie hielt sie fest und wiederholte den Wunsch, den Sasha schon von Johnny gehört hatte: «Komm mich wieder besuchen, Sasha.»
Sasha wischte sich eine Träne aus dem Auge. «Ich komme wieder», versprach sie.
Sasha traf sechs Stunden später im Asher Hotel ein, müde, hungrig und steif von der langen Fahrt. Sie hatte sich nicht angemeldet und vertraute auf ihr Glück, dasihr auch diesmal zur Seite stand. Doch sie erhielt nicht das Zimmer 323, in dem vor über zweihundert Jahren die junge Amelia gelebt hatte, sondern ein recht geräumiges Zimmer im ersten Stock.
Sasha duschte, bestellte sich ihr Abendessen aufs Zimmer und fiel gleich nach dem Essen in einen traumlosen, fast zwölfstündigen Schlaf.
Als Sasha aufwachte, strömte die Sonne durchs Fenster. Sie rief ihre Fluggesellschaft an und reservierte einen Platz in der Nachmittagsmaschine nach New York. Aber bevor sie zum Flughafen fahren konnte, hatte sie noch einige Dinge zu erledigen. Nach dem Frühstück holte sie einen Rosenstock aus dem Kofferraum ihres Mietwagens. Sie hatte diesen Einfall gehabt, nachdem sie sich von John verabschiedet hatte und auf der Rückfahrt zum Pub an einer Gärtnerei vorbeigekommen war. Eine Amelia Rose aus Yorkshire.
Sie betrat die Halle mit dem Rosenstock in den Armen, sah, dass niemand sie beachtete, und schlüpfte rasch in die Bibliothek. Sie griff in den leeren Umschlag von Walpoles
Das Schloss von Otranto,
hielt den Atem an und zog an dem metallenen Ring. Die Tür in der Wand schwang auf, Sasha zwängte sich hindurch und befand sich im kalten Mauergang, an dessen Ende die schwere Eichentür eingelassen war.
Sasha musste den Rosenstock auf den Boden stellen, um den Riegel mit beiden Händen kraftvoll zurückziehen zu können. Sie trat ins Freie, sah sich auf dem stillen Friedhof um und war irgendwie darauf vorbereitet, den Geist von Lady Amelia oder Johnny Blakeley zu sehen. Sie sah niemanden, ging hinüber zu Amelias Grab,kniete sich auf den Boden und pflanzte den Rosenstock neben dem Grabstein.
«Ich habe ihn gefunden, Amelia», flüsterte sie. «Du brauchst nicht mehr zu weinen. Johnny hat dich nicht vergessen. Ich hoffe, ihr könnt jetzt wieder zusammen sein … wo immer ihr auch seid.»
Sie klopfte die Erde um die Wurzeln fest und richtete sich auf. Sie fühlte sich entspannt und beruhigt, gar nicht mehr traurig. Sie drückte die Finger auf ihre Lippen und dann auf den kalten Grabstein, auf dem Amelias Name stand.
Langsam ging sie den geheimen Weg zurück, und eine Minute später stand sie wieder in der Hotelhalle. Jetzt hatte sie nur noch eine Aufgabe zu erledigen.
Sasha trat an die Rezeption. «Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, ob Claire heute arbeitet?»
Die Frau am Empfang schüttelte den Kopf und hob die Augenbrauen. «Nein, Claire hat heute ihren freien Tag. Kann ich etwas für Sie tun?»
Sasha lächelte und legte ein Päckchen auf den Tresen. «Können Sie ihr das geben, bitte?» Sie legte auch noch einen Umschlag hinzu. «Das auch, bitte.»
Sasha ging auf ihr Zimmer zurück und stellte sich Claires aufgeregtes Gesicht vor, wenn sie das Päckchen öffnete und Lady Amelias Manuskript fand. Sasha wusste, dass Claire das Vermächtnis bewahren und schützen würde. Ihr Brief an Claire war kurz; sie dankte ihr, sie vor ein paar Monaten zu Amelia gebracht
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