Unter deinem Stern
Simon auch. Ich hatte Angst, ich könnte meine beiden besten Freunde verlieren.«
»Keine Bange«, sagte Claudie. »So leicht wirst du uns nicht los. Jetzt erzähl mal, was mit dir und Jimmy ist.«
»Du wirst es nicht glauben, Claudie, aber er hat mich besucht, als ich bei dir war.«
Claudie erinnerte sich an ihren Anruf bei Jimmy vom Bahnhof aus.
»Ich war gerade dabei, mir einen von deinen Filmen anzusehen. Keine Ahnung, warum die dich so glücklich machen – ich hab die ganze Zeit nur geheult!«
Claudie lachte.
»Ich wünschte, es gäbe eine Stelle, bei der man sich darüber beschweren kann, wie unrealistisch das Leben in Filmen dargestellt wird.«
»Ach, Kris!«
»Also, jedenfalls war ich gerade dabei zu überlegen, was zum Teufel ich mit dem Rest des Abends anfangen sollte, denn es war erst neun Uhr, und ich hatte keine Lust, mir noch so eine Schmonzette reinzuziehen, als es plötzlich an der Tür klopft. Ich mache auf, und vor mir steht Jimmy. Er war so süß und lieb, Claudie! Er hat mir immer wieder gesagt, wie sehr ich ihm gefehlt hätte und wie sehr er mich liebt und alles und dass er es nicht verdient hätte, eine zweite Chance zu bekommen, aber dass er nicht wüsste, was er tun sollte, wenn ich nicht zu ihm zurückkäme.«
»Und dann?«
»Wir sind ins Wohnzimmer gegangen und haben uns aufs Sofa gesetzt, und Jimmys Beine waren irgendwie viel zu lang für das kleine Zimmer, und da hätte ich schon wieder losheulen können –«
»Aber was ist passiert? Erzähl’s mir!«
»Dann hat er gesagt: ›Wahrscheinlich krieg ich das mal wieder nicht hin‹, und ich frage ihn: ›Was kriegst du nicht hin?‹, und er sagt: ›Dich zu bitten, wieder nach Hause zu kommen. Bitte, komm wieder nach Hause, Kristen.‹«
»Das ist ja großartig, Kristen!«
»Das ist noch nicht alles. Er hatte einen Ring dabei, Claudie.«
»Wirklich?«
»Er hat die ganze Zeit so viele Schiffsmodelle gebaut, um das Geld für einen Ring zusammenzubekommen! Er ist wunderschön! Ich kann es kaum erwarten, ihn dir zu zeigen – mit drei Diamanten! Und die glitzern so schön!«
»Na, siehst du!«, sagte Claudie.
»Hä?«
»Du hast doch eben gesagt, dass du nicht an die Happy Ends in den MGM-Musicals glaubst, und jetzt erlebst du selber eins!«
47
Die Sonne schien, und York war Claudie noch nie so schön vorgekommen. Sie hatte sich den ganzen Tag freigenommen und war mit einem früheren Zug hergekommen, um in Ruhe noch ein bisschen durch die Stadt zu schlendern.
Zuerst schaute sie sich die Sehenswürdigkeiten an: die Kathedrale, den historischen Sitz des Schatzmeisters, Clifford’s Tower und das Stadtviertel Shambles. Anschließend klapperte sie die Boutiquen ab und gab zwei Wochenlöhne für neue Kleider aus.
Schließlich, bepackt mit drei prallvollen Tüten, ging sie in die Elizabeth Street Nummer fünfzehn zu ihrem wöchentlichen Termin bei Dr. Lynton.
Ihr Herz war so schwer wie ihre Einkaufstüten, als sie das Sprechzimmer betrat. Das, dachte sie, wird meine letzte Sitzung sein. Wehmütig schaute sie sich in dem Raum um. Das alles würde ihr fehlen: die Bücher in den Regalen, die Pflanzen, die Sessel, sogar der scheußliche Tee.
Und Dr. Lynton.
»Tee?«, fragte er, nachdem sie ihre Tüten abgestellt und Platz genommen hatte.
»Ja, bitte«, sagte sie.
»Mit Milch und einem Stück Zucker, nicht wahr?«
Claudie sah ihn verblüfft an. »Ja.«
»Wie war’s in Paris?« Dr. Lynton reichte ihr lächelnd die Tasse.
»Paris«, seufzte sie, »war wunderbar.«
»Sie haben also ein paar schöne Tage mit Ihrer Freundin verbracht?«
Claudie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und musterte Dr. Lynton. Was sollte sie ihm sagen? Die Wahrheit? Warum nicht? Hatte er das nicht verdient, in ihrer letzten Sitzung?
»Ich bin nicht mit Kristen gefahren, sondern mit Simon«, sagte sie ruhig.
»Simon? Der Mann aus dem Antiquariat?«
Claudie nickte.
»Der mit den Augen wie der Winterhimmel in Whitby?«
»Genau der!« Claudie bemühte sich erst gar nicht, ihr Lächeln zu unterdrücken.
Dr. Lynton beugte sich vor und rieb sich das Kinn. »Na, das ist ja –«
»Ein großer Fortschritt?«
Er nickte.
»Ich weiß.«
Er nickte wieder.
Claudie nippte an ihrem Tee. Das Gespräch amüsierte sie.
Diesmal brauchte sich Dr. Lynton keine Notizen zu machen, denn diesmal hatte Claudie nichts Besorgniserregendes zu berichten. Stattdessen plauderten sie miteinander wie alte Freunde. Freud war kein Thema mehr, und auch seine Bücher
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