Unter deinem Stern
gegen Kopfschmerzen.«
Claudie nahm das kleine braune Päckchen entgegen und lugte hinein. Der Inhalt sah aus wie winzige Fetzen verbranntes Papier. »Was in aller Welt ist das?«
»Wahrscheinlich ist es gesünder, wenn du es nicht weißt«, bemerkte Jalisa.
»Am besten, du stellst nie Fragen, wenn Mr Woo dir irgendeine Medizin gibt«, sagte Mary. »Das Zeug ist bestimmt noch schlimmer als das, was wir im sechzehnten Jahrhundert geschluckt haben.«
Claudie hatte das Mittel genommen und wie erwartet beinahe sofort wieder ausgespuckt. Dennoch hatte es erstaunlich schnell gewirkt. Einen Moment lang war sie versucht gewesen, etwas davon für Kristen zu erbitten, die ebenfalls reichlich mitgenommen aussah, hatte sich jedoch gesagt, dass Jalisa das sicherlich nicht erlauben würde.
Dann war Berts Show gefolgt. Seit die Engel eingetroffen waren, hatte Bert gedrängelt, er wolle eine Show geben.
»Wir sind doch nicht dazu da, die Leute zu unterhalten, du Stinkstiefel!«, schimpfte Mr Woo.
»Ganz recht, wir sind dazu da, Claudie zu unterhalten«, entgegnete Bert höflich.
So hatte Bert irgendwo zwischen Claudies Rolodex und ihrem Ablagekorb die Proben organisiert. Er hatte Claudie verboten zuzuschauen, aber es war ziemlich schwer, fünf kleine Engel zu übersehen, die sangen und tanzten und sich gegenseitig Anweisungen gaben. Abgesehen davon war das Ganze auf jeden Fall wesentlich unterhaltsamer als Mr Bartholomews Nachbesserungen der Verhaltensvorschriften für die Angestellten.
Claudie lächelte bei der Erinnerung an die Szene: Bert in der Mitte vor ihrem Monitor und hinter ihm die Go-Go-Girls Jalisa, Mary und Lily. Den armen Mr Woo hatte das Theater völlig verwirrt, und er hatte sich mit missmutiger Miene im Hintergrund gehalten.
Bert war wirklich der geborene Entertainer. Er hatte für jede Situation eine geistreiche Bemerkung parat und brachte Claudie selbst bei den langweiligsten Arbeiten immer wieder zum Lachen. Als sie stapelweise Kopien machten musste, saß er auf ihrer Schulter und erzählte ihr Witze, oder er legte zusammen mit Jalisa auf dem Kopierer eine Solonummer hin. Bei einem zweiten Soloauftritt der beiden hatte Jalisa auf dem Telefon einen Stepptanz aufgeführt und dabei Mr Bartholomews Anruf bei Claudie unterbrochen.
»Warum kommt er nicht herüber und spricht persönlich mit dir?«, hatte Bert gefragt.
»Mr Bartholomew ist kein Mann, der den persönlichen Kontakt sucht.«
Bert schüttelte den Kopf. »Also, ich verstehe solche Leute einfach nicht. Wieso führt so einer eine eigene Kanzlei, wenn er sich noch nicht einmal für die Menschen interessiert, die für ihn arbeiten? Vor allem so nette wie dich, Claudie.«
»Ach, Bert!«
»Nein, ich meine es ernst. Ich habe in meinem Leben eine Menge nette Frauen kennen gelernt, aber du bist wirklich außergewöhnlich! Wenn ich etwas jünger wäre – und noch lebte –, könnten wir beide glatt ein Paar werden, meinst du nicht?«
Claudie war puterrot angelaufen, und Lily und Mary nannten ihn seitdem Herzensbrecher-Bert.
Jetzt im Zug errötete sie erneut bei der Erinnerung daran. Was für ein Glück, dass sie die Engel hatte. Sie waren wie ein Leuchtfeuer in ihrer düsteren Welt, und vor allem waren sie ihre Schutzengel, auch wenn Jalisa das Wort nicht ausstehen konnte.
Ja, dachte sie, als der Zug in den Bahnhof von York einrollte, ich habe Dr. Lynton eine Menge zu berichten. Aber sollte sie es wirklich tun? Sollte sie ihm von dem heftigen Streit erzählen, den Bert und Mr Woo am Donnerstagnachmittag ausgefochten hatten? Claudie schüttelte den Kopf, als sie aus dem Zug ausstieg. Was für ein Schauspiel: zwei erwachsene Männer, nicht größer als zwei Bleistifte, die sich auf ihrem Schreibtisch anschrien. Mary und Lily hatten vergeblich zu schlichten versucht, und Jalisa hatte schließlich ein Machtwort gesprochen, als Mr Woo Bert erneut als Stinkstiefel beschimpft hatte. Anschließend hatte Jalisa die beiden fortgeschickt, zu einer Art Nachsitzen für Engel, wie sie Claudie erklärt hatte. Mehr hatte sie nicht dazu gesagt, nur, dass so etwas häufiger vorkomme.
Claudie grinste bei der Vorstellung, wie Bert und Mr Woo in einem Klassenzimmer saßen und hundertmal aufschreiben mussten: Ich darf mich auf dem Schreibtisch einer Kundin nicht streiten. Aber was würde Dr. Lynton von alldem halten?
Als er ihr in seinem Sprechzimmer gegenübersaß, mit ernstem Gesicht und einen Stift in der Hand, beschloss sie, ihm nichts von alldem zu erzählen.
Weitere Kostenlose Bücher