Unter deinem Stern
sie es auch schaffen würde. Doch sie wusste auch, dass sie es allein hinbekommen musste. Kristen und die Engel konnten sie schließlich nicht Tag und Nacht beschützen. Trauern war nun mal etwas sehr Privates, das tat man nicht in der Öffentlichkeit. Sie wünschte, sie könnte die Zeit einfach im Schnellvorlauf vergehen lassen, wie bei ihren Videos: Man brauchte einfach nur auf einen Knopf zu drücken, und schon ging es weiter.
In letzter Zeit erwischte Claudie sich immer wieder dabei, dass sie wünschte, irgendetwas wäre anders gelaufen. Als sie von Lukes Tod erfahren hatte, hatte sie gewünscht, sie hätte sich durchgesetzt und ihn nicht fahren lassen. Dann wäre er vielleicht eine Weile sauer auf sie gewesen, doch es hätte ihm das Leben gerettet. Etwas später hatte sie gewünscht, sie wäre bei ihm gewesen, entweder um ihm zu helfen oder um sich gleich nach ihm den Berg hinunterzustürzen und ihm in den Tod zu folgen.
Dann hatte sie angefangen, sich die seltsamsten Dinge zu wünschen. Sie hatte sich gewünscht, ein heftiger Windstoß würde sie ergreifen und aufs Meer hinaustragen. Sie hatte sich gewünscht, eine giftige Wolke würde sie einhüllen und in einen ewigen Schlaf versetzen. Und sie wünschte sich, sie hätte genug Ausdauer, bis ans Ende der Welt an den Klippen entlangzulaufen.
Manchmal hatte sie auch ganz normale Wünsche, zum Beispiel würde sie gern einschlafen und nie wieder aufwachen. Das hatte sie sich schon hundertmal gewünscht. Oder sie wünschte sich, sie würde sich einfach in Wohlgefallen auflösen wie das Dorf in dem MGM-Musical Brigadoon.
Bei so vielen Wünschen hatte sie eigentlich gedacht, dass zumindest einer davon in Erfüllung gehen würde, und sie fühlte sich regelrecht betrogen, weil ihr bisher nichts dergleichen zugestoßen war und sie immer noch lebte.
Claudie richtete sich auf ihrem Sofa auf und schaute sich vergeblich nach einem Papiertaschentuch um. Sie ging ins Schlafzimmer, aber auf ihrem Nachttisch waren auch keine zu finden, also musste sie sich mit Toilettenpapier begnügen. Nicht zum ersten Mal dachte Claudie, dass man Witwen mindestens ein Jahr lang kostenlos Papiertaschentücher zur Verfügung stellen sollte.
Nachdem sie sich die Augen getrocknet und die Nase geputzt hatte, riskierte sie einen Blick in den Spiegel, was sie sofort bereute. Eine Frau mit aschfahlem Gesicht, zerzausten Haaren und geröteten Augen starrte ihr entgegen. Doch dann passierte etwas Seltsames. Als sie das Spiegelbild des Gene-Kelly-Posters betrachtete, das an ihrer Badezimmerwand hing, hätte sie schwören können, dass er lächelte und ihr zuzwinkerte.
10
»Du erzählst uns längst nicht alles, stimmt’s?«, sagte Jalisa und schwang die Beine provozierend über Claudies Bildschirm.
»Ich versuche zu tippen, Jalisa.«
»Erst möchte ich ein umfassendes Geständnis.«
»Was für ein Geständnis? Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Claudie ungehalten, während ihre Finger über die Tastatur flogen.
»Claudie – Mr Woo sieht Tränenspuren mit geschlossenen Augen. Du hast geweint, nicht wahr?«
Claudie hörte auf zu tippen. »Merde! «
»Wie bitte?«
»Merde!«, wiederholte Claudie.
»Ein bisschen mehr Kultur, bitte!«, schalt Bert, der neben Claudies Stiftebecher ein Nickerchen gehalten hatte. »So redet eine Dame nicht.«
»Ja, wirklich, eine solche Ausdrucksweise hätte ich nicht von dir erwartet«, bemerkte Mary leicht verlegen.
»Ach? Gab es bei euch etwa keine ›Scheiße‹?«, fragte Claudie, die nicht in der Stimmung war, sich damenhaft zu geben.
»O doch!«
»Die ganzen Straßen waren voll davon!«, sagte Lily kichernd. »Nur dass du es weißt – die besten Schimpfwörter sind alt. Wie Arsch zum Beispiel und f–«
»Äh – ich denke es reicht!«, mahnte Jalisa.
»Ich wollte nur etwas klarstellen«, sagte Lily und hob pikiert die Schultern, die sie zur Abwechslung in ein hellrosa Angorajäckchen gehüllt hatte.
»Gute Güte!«, rief Bert aus. »So habe ich Frauen noch nie reden gehört.«
»Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Albert«, sagte Lily selbstgefällig, als wäre auch sie ein Produkt der modernen Zeiten.
»Ihr seid alle so laut«, beschwerte sich Mr Woo verschlafen.
»Halt die Klappe, du alter Sack.«
»Selber alter Sack!«
»ICH DARF DOCH SEHR BITTEN!«, fauchte Jalisa von ihrem Lieblingsplatz auf dem Monitor aus. »Habt ihr beiden denn immer noch nichts dazugelernt? Soll ich euch wieder zum Nachsitzen
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