Unter deinem Stern
Wahrscheinlich gab es in diesem Augenblick hunderte von Paaren im Land, die zusammen Pizza essend vor dem Fernseher hockten, und Claudie verwünschte sie alle. Wussten die überhaupt, was für ein Glück sie hatten? Wahrscheinlich nicht. Diese beiden hinter dem Fenster zum Beispiel hatten nur Augen für den Bildschirm, anstatt aufeinander zu achten. Merkte sie denn nicht, dass er sich die Finger mit Tomatensoße beschmiert hatte? Und sah er nicht die Krümel auf ihrem Pullover? An solche kleinen Dinge erinnerte man sich, wenn jemand plötzlich nicht mehr da war.
Claudie wandte sich von dem Fenster ab und setzte ihren Weg fort, die Schultern hochgezogen und den Kopf gegen den eisigen Wind gesenkt.
Sie versuchte, nicht an das leere Haus zu denken, das auf sie wartete, und auch nicht an die Stille. Die Stille war das Schlimmste. Vielleicht war sie deswegen so süchtig nach den Songs von Judy Garland, Kathryn Grayson und Frank Sinatra. Ihre Freunde von MGM konnten die Stille mit ihrem Gesang vertreiben. Aber die Stille war ein hartnäckiger Gegner. Sie kroch unbemerkt durch den Flur, schlich sich heran, wenn Claudie am wenigsten damit rechnete, und nahm ihr Herz in den Würgegriff.
Sie hatte Kristen nichts von ihrer Angst erzählt. Vielleicht konnte sie mit den Engeln über das Thema sprechen. Sie war so froh, dass die fünf sie dazu überredet hatten, den Abend mit Kristen zu verbringen, doch die Zeit war viel zu schnell vergangen, und sie wollte nicht schon wieder allein sein, auch wenn es inzwischen ziemlich spät war. Ob sie die Engel rufen und sie bitten konnte, ihr ein bisschen Gesellschaft zu leisten? Sie hatte zwar gesagt, sie würde sie vor allem im Büro brauchen, aber bedeutete das, dass sie nirgendwo anders hinkämen?
Sie überlegte, was passieren würde, wenn sie einfach nach ihnen rief.
»Jalisa?«, flüsterte sie in die Nacht. »Bist du da?«
Als sie keine Antwort bekam, beschleunigte sie ihren Schritt und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
9
Claudie schaute aus dem Zugfenster. Das ist wirklich die verrückteste Woche, die ich je erlebt habe, dachte sie. Bis auf eine.
Die Zeit war wie im Flug vergangen, und jetzt war schon wieder Freitag, und sie war unterwegs zu Dr. Lynton. Aber würde sie den Mut aufbringen, ihm von den seltsamen und wunderbaren Dingen zu berichten, die sich im Verlauf der Woche auf ihrem Schreibtisch abgespielt hatten? Konnte sie ihm von Jalisa, Lily und Mary, Bert und Mr Woo erzählen? Konnte sie ihm sagen, dass sich fünf verrückte Engel um ihren Computer herum häuslich eingerichtet hatten? Würde er ihr glauben, oder würde er sofort die Männer in den weißen Kitteln rufen?
Vielleicht haben seine anderen Patienten Ähnliches erlebt, überlegte sie hoffnungsvoll. Womöglich war das ja ein ganz gewöhnliches Phänomen? Womöglich gab es sogar Selbsthilfegruppen: Anonyme Engelschützlinge. Hmm, dachte sie, wohl eher nicht.
Aber es konnte doch nicht sein, dass sie die Einzige war, die Besuch von Engeln bekam. Jalisa hatte von ganzen Heerscharen von Engeln erzählt, die ständig auf ihren Einsatz warteten, und Claudie fragte sich allmählich, wie in aller Welt sie mit ihrem Leben zurechtgekommen war, bevor die Engel sich ihrer angenommen hatten.
Obwohl sie am Abend zuvor im Restaurant nur ein Glas Wein getrunken hatte, war Claudie am Mittwochmorgen mit einem Brummschädel aufgewacht, der sich anfühlte, als hätte King Kong darauf herumgetrampelt. Die Engel auf ihrem Schreibtisch hatten sich halb totgelacht, als sie wie ein Zombie ins Büro gewankt war.
»Ich dachte, ihr wärt da, um auf mich aufzupassen«, hatte sie sich beschwert.
»Du musst trotzdem auch selbst auf dich aufpassen«, sagte Bert. »Also, wenn du einen über den Durst –«
»Ich habe gar nicht viel getrunken«, erwiderte Claudie. »Wenn ich mich betrunken hätte, würde ich das ja vielleicht verstehen, aber ich habe mich extrem zurückgehalten.«
»Du hättest dir den Tag freinehmen sollen«, meinte Mary.
»Mein Kopf fühlt sich an wie eine Kanonenkugel.«
»Meine Güte!«, kicherte Jalisa. »Ich fürchte, das ist nicht mein Spezialgebiet, aber Mr Woo hat bestimmt was für dich. Mr Woo?«
Der kleine Chinese trat hinter dem Stapel Akten hervor, den Mr Bartholomew auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte.
»Hier, Claudie«, sagte er scheu, den Kopf so tief gebeugt, dass er sie kaum ansehen konnte. »Spül es mit etwas Wasser hinunter.«
»Was ist das?«
»Es schmeckt bitter, aber es ist sehr gut
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