Unter deinem Stern
dass sich fast alle anderen Gäste nach ihnen umdrehten.
»Verzeihen Sie, meine Damen.« Ein übertrieben elegant gekleideter Kellner war an ihren Tisch getreten. »Könnten Sie vielleicht ein bisschen leiser sein?«
»Keine Sorge, Kumpel, wir sind schon weg«, fauchte Kristen. »Und mit einem Trinkgeld brauchst du gar nicht erst zu rechnen, du aufgeblasener Pinguin!«, raunte sie hinter ihm her, als er sich verzog.
»Mein Gott, Claudie, ich fühle mich schrecklich!«, gestand Kristen, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten.
»Kein Wunder bei dem vielen Wein, den du getrunken hast.«
»Nein, das ist es nicht. Ich hab den ganzen Abend nur von mir erzählt.«
»Und?«
»Na ja, eigentlich hatte ich das gar nicht vor. Also, ich meine –«
»Ich weiß, was du meinst.«
Kristen lächelte. »Ich wollte dich fragen, wie es dir geht. Du weißt schon.«
Claudie nickte. Sie wusste, und sie war froh, dass Kristen sie nicht mit Fragen gelöchert hatte. Aber ein- oder zweimal während des Essens hatte sie überlegt, ob sie Kristen von den Engeln erzählen sollte. Doch stets hatte sie sich auf die Lippe gebissen und sich schnell eine Gabel voll Nudeln in den Mund geschoben, bevor sie sich verplappern konnte.
»Am besten, wir gehen jetzt beide nach Hause«, sagte Claudie, um das Thema zu wechseln. »Glaubst du, du schaffst es allein?«
»Na klar. Und du?«
Claudie nickte. Es war immer dasselbe, wenn sie zusammen ausgingen. Am Ende stritten sie sich jedes Mal darüber, wer wen nach Hause begleiten sollte.
»Du wohnst weiter weg.«
»Der Weg zu dir ist unheimlicher.«
»Du musst die vielen Treppen runter.«
»Du wohnst hinter der Kirche.«
Und so weiter, bis sie so müde waren, dass sie sich einfach verabschiedeten und sich getrennt auf den Heimweg machten.
Aber diesmal hatte Claudie sich durchgesetzt und Kristen nach Hause begleitet. Zumindest bis zu der Treppe, die zu ihrem Haus hinunterführte. Kristen wollte es zwar nicht zugeben, doch sie hatte zweifellos zu viel Wein getrunken, und sie war ziemlich unsicher auf ihren hochhackigen Schuhen.
»Ich wünschte, du würdest dir mal ein paar vernünftige Schuhe zulegen.«
»Fang bloß nicht schon wieder damit an«, lallte Kristen, während sie Claudie fest an sich drückte.
»Bist du sicher, dass du die Treppe allein schaffst?«
»Ja! Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor Dracula die Straßen unsicher macht.«
»Alles klar!«, kicherte Claudie. Sie wünschte, Kristen hätte nichts von Dracula erwähnt. Natürlich wusste sie, dass es sich um eine Fantasiegestalt handelte, aber an manchen Abenden war sie tatsächlich davon überzeugt, dass Bram Stoker seinen Romanhelden aus gutem Grund in Whitby ansässig gemacht hatte.
»Nacht, Claudie«, sagte Kristen und trat auf die erste Stufe.
»Nacht, Kris.«
Claudie schaute Kristen nach und wartete, bis sie hörte, wie ihre Freundin die Haustür aufschloss. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den zehnminütigen Heimweg. Allein. Im Dunkeln.
Sie versuchte, nicht in die zahllosen dunklen Gassen zu schauen, und vermied jeden Blickkontakt mit den Schatten. Und sie dachte nicht an Dracula – jedenfalls nicht zu sehr. Aber gerade in solchen Momenten, wenn sie abends allein durch die Straßen ging oder wenn sie nachts auf den erlösenden Schlaf wartete, fühlte sie sich ganz besonders allein. Seltsam, bevor sie Luke kennen gelernt hatte, war sie sich dessen gar nicht bewusst gewesen. Nicht, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgegeben hätte, sie war nie die Sorte Frau gewesen, die sich von einem Mann abhängig machte, doch wenn man eine Zeit lang in einer Beziehung gelebt hatte, die es dann ganz plötzlich nicht mehr gab, entstand eine deutliche Leere.
Während sie allein durch die Dunkelheit nach Hause eilte, hatte Claudie das Gefühl, die Einsamkeit kaum noch ertragen zu können. Niemand wartete zu Hause auf sie. Kristen hatte wenigstens ihren Jimmy. Sie mochte sich noch so sehr über ihn beklagen, aber er würde noch wach sein und sie in den Arm nehmen, wenn sie kam. Doch was erwartete Claudie in ihrem Haus? Ein paar Gene-Kelly-Poster und ein leeres Bett. Manchmal fragte sie sich, ob es sich überhaupt noch lohnte, nach Hause zu gehen.
Sie schlug ihren Kragen hoch und schaute die Straße hinunter. Hinter einigen Fenstern brannte noch Licht, und als sie in eins hineinlugte, sah sie ein junges Pärchen mit einer riesigen Pizza vor dem Fernseher sitzen. Es war eine ganz normale häusliche Szene.
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