Unter deinem Stern
jemand aufgefallen ist. Bitte«, seine Stimme klang jetzt wieder freundlicher, »fassen Sie das nicht als Kritik an Ihnen auf.«
Als was sollte sie es denn sonst auffassen? Sie rutschte auf ihrem Sessel herum und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, nur um mit Entsetzen festzustellen, dass die Sitzung noch nicht einmal zur Hälfte um war. Wie sollte sie die nächste halbe Stunde überstehen? Was sollte sie sagen? Auf keinen Fall wollte sie das Thema weiter erörtern, das kam überhaupt nicht in Frage.
Vielleicht sollte sie ihm einfach von den Engeln berichten? Damit konnte sie Dr. Lynton garantiert von dem Thema ablenken, auf das er sich so begeistert gestürzt hatte. Aber nein, eigentlich wollte sie nicht über die Engel sprechen. Sie waren vorläufig ihr kleines Geheimnis. Ihre private Welt.
Dr. Lynton räusperte sich. »Es tut mir Leid, wenn ich Sie aus der Fassung gebracht habe, Claudie.«
Sie schaute ihn an. Er wirkte bestürzt, und plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er versuchte schließlich nur, ihr zu helfen. Tief in ihrem Innersten wusste sie das. Aber sie wusste auch, dass sie sich nicht unter Druck setzen lassen wollte. Nicht jetzt. Noch nicht.
»Entschuldigung, dass ich mich so ereifert habe«, sagte sie.
»Schon in Ordnung«, erwiderte er und lächelte zum zweiten Mal. »Wollen wir lieber über etwas anderes reden? Was haben Sie in der letzten Woche noch alles erlebt?«
»Ich bin mit Kristen essen gegangen, und man hat uns aus dem Restaurant geworfen«, sagte Claudie.
»Sie sind schon eine ganze Weile nicht mehr ausgegangen, nicht wahr?«
»Genau das haben die Eng–«, sie unterbrach sich, bevor sie sich endgültig verplapperte. »Genau das hat Kristen auch gesagt.«
»Haben Sie sich amüsiert?«
»Ja!« Claudie strahlte. »Und wie. Obwohl ich am nächsten Morgen von einem einzigen Glas Wein einen schrecklichen Kater hatte. Aber es war einfach schön, wieder mal unter Leute zu kommen.«
Dr. Lynton rieb sich das Kinn, als überlegte er, wie er sich ausdrücken sollte. »Das ist gut«, sagte er. »Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, meinen Sie nicht?«
Claudie nickte mit klopfendem Herzen und hoffte inständig, dass er nicht wieder etwas sagen würde, was sie zu spontanen Reaktionen veranlasste.
»Diese Dinge brauchen Zeit«, fuhr er fort. »Das wissen Sie doch, nicht wahr? Sie werden wieder ein normales Leben führen. Es wird nicht dasselbe sein wie früher, aber Sie werden sich wieder besser fühlen. Daran glauben Sie doch, oder?«
Claudie nickte noch einmal, auch wenn sie sich da nicht ganz sicher war.
Als sie am Abend nach Hause kam und die Tür hinter sich schloss, begriff sie plötzlich, worauf Dr. Lynton hinausgewollt hatte. Sicher, es war ihr auch schon während der Sitzung halbwegs klar gewesen, aber als müsste sie sich schützen, hatte sie es ignoriert, stattdessen seine knallgrünen Socken angestarrt und darauf gewartet, dass es vier Uhr wurde, damit sie endlich die Flucht ergreifen und sich eins ihrer Lieblingsmusicals kaufen konnte, das gerade als DVD herausgekommen war. Doch jetzt, als sie in ihr leeres Haus zurückkehrte, begannen ihre Hände zu zittern. Erst kaum merklich, dann so heftig, als würden sie sich im Takt zu einer heiteren Musik bewegen. Damit nicht genug, schon bald kroch das Schütteln in ihrem Körper hoch, und ihre Schultern zuckten so heftig, dass sie fast ihre Ohrläppchen berührten.
Dann kam das Unvermeidliche. Ihr Gesicht verkrampfte sich, und zum ersten Mal seit Wochen weinte sie. Heiße Tränen quollen ihr aus den Augen, und sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Sie weinte hemmungslos, unmöglich, es aufzuhalten. Einmal hatte sie das versucht – sie hatte ihre Tränen mit purer Willenskraft zurückgehalten und sich gezwungen, in die Stadt zu gehen. Das war ein großer Fehler gewesen. Sie war im Zeitungsladen zusammengebrochen und hatte Kristen anrufen müssen, die gekommen war und sie nach Hause gebracht hatte.
Jetzt wagte sie es nicht mehr, ihre Gefühle zu unterdrücken, aber ihnen freien Lauf zu lassen war nicht weniger schrecklich. Manchmal, nach einem besonders deprimierenden Tag, konnte das Stunden in Anspruch nehmen, und hinterher fühlte sie sich jedes Mal völlig erschöpft und einsamer denn je.
Das Schlimmste daran war, dass ihr in solchen Situationen niemand wirklich helfen konnte. Das war ganz normal, das wusste sie. Man hatte ihr erklärt, dass sie diese Lebensphase durchstehen musste und dass
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