Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
Jahre nach dem Begräbnis ihres Vaters war sie auf dem Motorrad durch die Himalaya Hills gefahren, hatte nach Spuren ihres Bruders gesucht und nutzlos seinen Namen in die heißen violetten Hügel gerufen: »Giovanni! Giovanni!«
Niemand beginnt einen Krieg mit der Warnung, dass alle Beteiligten ihre Unschuld verlieren werden – dass mit Sicherheit Kinder sterben oder für immer verschwinden werden als Opfer eines Konflikts, der noch über viele Generationen weitergehen wird, lange nachdem Waffenstillstände geschlossen, Friedensabkommen unterzeichnet wurden. Unter solchen Prämissen beginnt niemand einen Krieg, dabei wäre es das Mindeste, was man tun könnte. Es wäre eine faire Warnung und ein aufrichtiges Eingeständnis: Auch ein gerechter Krieg – wenn es so etwas überhaupt gibt – tötet alle, die alt genug zum Sterben sind.
TEIL DREI
Die Macht sprach zur Welt: »Du bist mein.«
Die Welt hielt sie auf ihrem Thron gefangen.
Die Liebe sprach zur Welt: »Ich bin dein.«
Die Welt gab ihr die Freiheit ihres Hauses.
Rabindranath Tagore
Ich halte immer ein Aufputschmittel griffbereit für den Fall,
dass ich eine Schlange sehe, die ich auch griffbereit halte.
W.C. Fields
Nicola Fuller of Central Africa und der Baum des Vergessens
Mum bei ihren Fischteichen, Sambia, 2008 © Ian Murphy
Müsste ich dem Augenblick, in dem Mum begann, von uns wegzuschwimmen, ein Datum zuordnen, dann würde ich Richards Tod nennen, denn in den Jahren danach erschien sie uns wie jemand, der Zuflucht in einer entlegenen Unterwasserwelt gefunden hatte. Und wie hätte es auch anders sein können? Mums Gehirn, das wie bei allen aus ihrem Clan zu »seltsamen Anwandlungen, psychischer Labilität, Depressionen« neigte, musste nach all den Schicksalsschlägen und schrecklichen Verlusten – drei Kinder, ein Krieg, eine Farm – zwangsläufig ausrasten. Ganz zu schweigen von dem, was von ihr selbst verloren gegangen war: das eigensinnige kleine Mädchen aus Kenia, die Stöckelschuhe tragende Braut, die ausgelassene, zu jedem Spaß aufgelegte junge Mutter.
Und auch wenn Mum in den Jahren nach dem Tod des Babys hin und wieder an die Oberfläche ihres Unterwasserrefugiums kam, manchmal sogar für Monate am Stück, war die Gefahr des erneuten Rückzugs uns stets gegenwärtig. Irgendetwas – ein geringfügiger Ärger (eine Autopanne) oder ein schwerer Schlag (der Tod ihrer Mutter im Jahre 1993) – konnte der Auslöser für eine Phase sein, in der sie wieder unerreichbar für uns war, bis weit in den Vormittag hinein schlief, nicht mehr auf ihr Äußeres achtete, sich nicht für die Welt um sie herum interessierte.
Aber immer häufiger passierte jetzt etwas anderes, nicht weniger Beunruhigendes: Mum versank nicht mehr nur in ihrem Unterwasserrefugium, manchmal verlor sie auch den Boden unter den Füßen und schwebte himmelhoch. In solchen Fällen war sie wie aufgepumpt mit Energie: ritt ihr Pferd mit wildem Leichtsinn statt wildem Mut, raste mit hoher Geschwindigkeit über holprige Wege, betrank sich mit wenig Vorsicht und noch viel weniger Freude. In dieser Phase blieben ein paar Autowracks an der Strecke zurück: Sie schleuderte das Fahrzeug das eine Mal elegant um die linke Vorderachse und landete beim nächsten Mal seitlich in einem Regenwasserkanal. »Ein ziemlich dummer Platz für einen Graben«, tröstete sie ein einfühlsamer Nachbar, als er sie aus dem Auto zog.
1998, achtzehn Jahre nachdem Richard gekommen und gegangen war, fünf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, durchlebte Mum die schlimmste all ihrer Wahnsinnsepisoden. Anfang des Jahres war ihr Vater gestorben, im Alter von fast neunzig Jahren, geliebt von allen in dem Pflegeheim bei Perth in Schottland, in dem er seine letzten Tage verbrachte, sanft entschlafen nach seiner abendlichen Dosis Scotch. Mum nahm seinen Tod erstaunlich gefasst hin, und das Begräbnis auf Waternish Estate ging ohne Probleme über die Bühne. »Die Menschen auf Skye haben großen Respekt vor dem Tod«, sagt Mum lobend. »Sogar der Brückenzoll für die Überfahrt vom Festland wurde uns erlassen. War doch nett, oder?«
Dad führte den Autokorso zur Trumpan Church an, gefolgt vom Vikar, gefolgt vom Leichenwagen, gefolgt von Tante Glug und Onkel Sandy, und da er es von Afrika gewöhnt war, große Entfernungen auf holprigen Straßen hinter sich zu bringen, schlug er ein forsches Tempo an, umkurvte die böse blickenden Schafe wie Schlaglöcher. »Der Vikar drückte wie wild auf die Lichthupe, damit wir
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