Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
stolperte oder auf eine Schlange trat, wenn sie nachts mal rausmusste.
Aber Mum kam mit der Einsamkeit nicht so gut zurecht wie Dad. Sie machte einen ruhelosen und verwirrten Eindruck, konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um auch nur eine Seite in ihrem Buch zu lesen, und verlor, was noch schlimmer war, jegliches Interesse an der Vogelwelt. Ihre Haut wurde gelblich, als würde die stechende Sonne des Lowveldt ihr die Farbe rauben, und sie litt immer häufiger unter Herzrasen. Doktor Mitchell machte sich Sorgen. Er schickte meine Mutter ins Krankenhaus. »Bettruhe, bis das Kind auf der Welt ist«, ordnete er an. Also verließ Mum die Ranch und blieb in Umtali im Krankenhaus, bis das Baby, ein Junge, Ende Juni 1980 per Kaiserschnitt zur Welt kam.
»Er hatte die blauesten Augen der Welt, genau wie Dad«, sagt Mum. »Er war perfekt – perfektes kleines Gesicht, perfekter kleiner Körper.« Sie legt den Zeigefinger an die Lippen. »Aber da drinnen war etwas nicht in Ordnung, weißt du, der hintere Gaumen war nicht richtig ausgebildet …« Trotzdem schaffte es das Baby, ein bisschen zu saugen, und wenn es schrie, legte Mum es an die Schulter und sang ihm etwas vor. Aber im Lauf der Tage wurde das Baby immer lethargischer, verlor seine Fähigkeit, nach Mums Fingern zu greifen, und sein Geschrei klang zunehmend kläglicher. »Wir erwarteten ein medizinisches Teil aus Südafrika«, sagt Mum. »Etwas, das man in den Gaumen einsetzte, um ihm das Saugen zu ermöglichen, ohne dass er sich verschluckte.« Aber bevor die Sendung aus Johannesburg eingetroffen war, kam eine der Krankenschwestern an Mums Bett. »Sie sollten nach Ihrem Kind sehen«, sagte sie. »Es geht ihm nicht gut.«
Mum hielt sich die Naht am Unterbauch und rannte aus der Wöchnerinnenstation in den Säuglingssaal. »Viele der Schwestern waren inzwischen Schwarze«, sagt Mum, »und nach allem, was wir durchgemacht hatten … na ja, wahrscheinlich ist das ganz normal. Sie waren nicht sehr teilnahmsvoll.« Mum seufzt. »Manche waren sogar ein bisschen rachgierig.« Sie schaut zur Seite. »Es war jedenfalls sehr grausam.« Als sie in den Säuglingssaal kam, lag ihr Baby erschreckend reglos in dem kleinen Bettchen. »Oh Gott, es war furchtbar«, sagt Mum. »Er ist allein gestorben. Weißt du? Mutterseelenallein, das kleine Wesen.« Sie hob den winzigen steifen Körper ihres Sohns aus dem Bettchen und wiegte ihn – »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm, »es tut mir so schrecklich leid« – und ließ ihm die Tränen auf das Gesicht tropfen. Dann legte sie das Baby vorsichtig zurück in das Krankenhausbettchen, deckte es mit einer Decke zu und sank auf die Knie.
Sie wartete darauf, dass der alte, vertraute Schmerz über sie kam. Stattdessen versank alles, was Mum je gefühlt hatte, versank immer tiefer, bis ihr eigener Körper zu keiner Reaktion mehr fähig war: Die Knie auf dem roten Zementfußboden stumpften sich ganz von allein gegen noch mehr Schmerz ab; den frischen Kaiserschnitt spürte sie nur noch als fernes Stechen. Da war nichts mehr – nur noch Leere. Meine Eltern hatten dem Kind keinen Namen gegeben. Mum schüttelt den Kopf: »Dazu war es nicht lange genug auf der Welt. Wir wollten einfach nur vergessen, weitermachen.« Vanessa und ich dagegen konnten uns keinen namenlosen Bruder vorstellen, deshalb tauften wir das Baby in Abwesenheit auf den Namen Richard. Von meinen drei toten Geschwistern wird und darf am wenigsten über ihn gesprochen werden.
Vier Wochen nach dem Tod des Babys lag Mum im heißen, filigranen Schatten eines Kameldornbaums neben dem Ranchhaus in Devuli und fühlte sich völlig leer. Wenn nachts der Generator für ein paar Stunden eingeschaltet war, trank sie Brandy und spielte immer wieder »The Final Farewell« von einer Roger-Whittaker-Langspielplatte. An manchen kühleren Vormittagen ritt sie ihr Pferd durch das ausgetrocknete Flussbett, das die Grenze der Ranch markierte, summte das Lied vor sich hin und dachte, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod hatte und nicht genug Worte für die Liebe, die sie für das verlorene Kind empfunden hatte. Beileibe nicht genug.
Über zwanzig Jahre nachdem wir Robandi verlassen hatten, im Oktober 2002, kehrte ich noch einmal zurück ins Burma Valley, um dort nach Spuren meiner Familie zu suchen. Wir hatten gar nicht so lange auf Robandi gelebt – etwas mehr als sechs Jahre, nicht einmal der siebte Teil von Mums Leben, während ich dieses hier schreibe. Aber diese Jahre haben wegen
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