Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
langsamer fuhren«, sagt Mum, »aber Dad missverstand es als Aufforderung, noch mehr auf die Tube zu drücken. Es dürfte der erste Leichenwagen gewesen sein, der auf zwei Rädern über die Insel gerast ist.«
Die kleine Begräbnisprozession, noch etwas außer Atem von der Fahrt, die den meisten wie eine Rallye vorgekommen sein musste, versammelte sich um das Grab neben der Kirchenruine. Onkel Sandy – zünftig ausstaffiert in Kilt, Glengarry-Mütze und Sporran – blies »Flowers of the Forest« auf dem Dudelsack. »Und plötzlich, mitten im Lied – der Dudelsack dudelte, und alle weinten leise vor sich hin – rissen die Wolken auf, und über uns öffnete sich ein strahlend blauer Himmel. Und dann erschien direkt hinter der Kirchenmauer eine Gestalt im blauen Anorak. Jeder hat sie gesehen.« Mum bekommt den Clanranald-Blick. »Und wir waren uns alle einig, dass der Geist unseres geliebten, im Schützengraben leidenden Onkels Allan erschienen war, um meinen Vater auf der anderen Seite in Empfang zu nehmen. Eine Begrüßung nach Highlander-Art, würde ich sagen.«
Aber trotz des gelungenen Begräbnisses und noch bevor Mum Schottland wieder verließ, machten sich bei ihr erste Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs bemerkbar. Ihre Augen wurden blassgelb, und sie erklärte jedem, der ihr zuhörte, dass Schottland die Abspaltung von England vorantreiben müsse. (»Versucht es doch mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung, so wie wir in Rhodesien.«) Vor der Abreise lud sie kiloweise Haggis in ihren Koffer und versuchte, das Zeug durch den Zoll zu schmuggeln.
Zurück in Sambia schlief und aß Mum nicht mehr und flatterte in dem kleinen, gemieteten Häuschen in der Nähe von Lusaka herum wie ein Kolibri im Käfig. Sie gab ihre kleinen Gewohnheiten auf – Tee vor dem Frühstück, den Abendspaziergang mit den Hunden, das Vollbad mit dem BBC World Service vor dem Abendessen – und schluckte immer mehr Valium und Brandy, die nicht einmal ansatzweise eine beruhigende Wirkung auf sie auszuüben schienen. Dad, der bei Mums bisherigen Zusammenbrüchen die Strategie verfolgt hatte, sie zu ignorieren, machte sich diesmal ernsthafte Sorgen. Er verbrachte so viel Zeit, wie er erübrigen konnte, in der Nähe ihrer Schlafzimmertür, rauchte Zigaretten und legte Patiencen. Und Mum lag hinter der Tür, stellte sich schlafend und plante die Flucht zu den entlegensten und unmöglichsten Orten: in die Demokratische Republik Kongo (»Je m’appelle Nicola Fuller de l’Afrique centrale!«) oder ins Londoner West End ( Starlight Express , Cats , Les Misérables !). Und sobald Dad in seiner Wachsamkeit ein bisschen nachließ, nahm sie Reißaus, fuhr nach Lusaka, um sich Flugtickets nach London zu besorgen, und schaffte es einmal sogar bis nach Lubumbashi, ehe mein Vater sie wieder eingefangen hatte. (»Ach, warum müsst ihr mich bloß alle so schikanieren?«)
So ging das ein paar Monate, bis sie sich schließlich, vor Erschöpfung, Asthma und Unterernährung völlig entkräftet, selber in ein Krankenhaus in Lusaka einwies, indem sie mitten in der Nacht so lange an die Tür hämmerte – barfuß und zitternd nach meilenweitem Marsch über Feldwege –, bis ein Nachtwächter sie hörte und ihr aufmachte. Am nächsten Tag fuhr Dad sie in die psychiatrische Abteilung einer Klinik in Simbabwe, fünf, sechs Autostunden hinter der Grenze. Dort schnallte man sie auf ein Bett und stellte sie mit Medikamenten ruhig, bis ihr Zustand so stabil war, dass man eine Diagnose stellen und sie behandeln konnte. »Meine Wahnsinnspillen, meine Glückspillen, meine Panikpillen, meine Schlafpillen«, sagt sie. »Ich hatte einen wunderbaren Psychiater, einen äußerst talentierten Mann. Er wusste genau, was mit mir nicht stimmte und was er mir geben musste, um mich wieder gesund zu machen.« Sie stößt ein paarmal mit dem Gehstock auf, um ihren Worten Nachdruck zu geben. »Ein leichtes chemisches Ungleichgewicht, mehr war es nicht.«
Wir führen dieses Gespräch auf einem Abendspaziergang vom Sambesifluss zum Baum des Vergessens. Die Hunde stürmen uns voraus, stöbern nach Schlangen und scheuchen Heuschrecken von der Größe kleiner Tauben auf. »Gut«, räumt Mum ein, »ich bin verrückt. Wir alle wissen es, aber wo ist das Problem, solange ein Mittel von Cairo Chemist alles wieder in Ordnung bringen kann?« Plötzlich setzt sie mit einem aufgeregten kleinen Jauchzer das Fernglas an die Augen und sagt: »Sieh mal, ein Graubrust-Paradiesschnäpper.
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