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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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umhertrieben. Dann tranken wir Tee aus feuchten Tassen und aßen klamme Butterbrote. Hing die Wäsche draußen, dann dominierten in dem kleinen Hof die Laken, und es fiel ein eigenartiges weißes Licht in die Stube, das Montagslicht. Es kam auch vor, dass die Wäsche an sonnigen Wintertagen draußen aufgehängt werden konnte und dort dann gefror. Man konnte sie nicht hereinholen, weil Handtücher, Kissenbezüge und Laken zerbrochen wären, sobald man sie von der Leine nahm. Draußen bleiben konnte die Wäsche jedoch auch nicht, weil sich dann »das Wetter« darin festsetzte, ein katastrophales Phänomen, das keiner näheren Erläuterung bedurfte. In dieser Situation blieb nichts anderes übrig, als die Laken mit einem kleinen Petroleumofen aufzutauen, was nur bei leichtem Frost möglich war, oder sie doch mit äußerster Vorsicht von der Leine zu meißeln. Mit Angstschweiß auf der Stirn half ich dabei und fürchtete, gleich wieder den abgebrochenen Schulterträger eines Leibchens in den Händen zu halten.
    Am Montag, nach dem Abendessen, saßen wir um sieben Uhr alle miteinander still in der Stube und lasen. Es wäre undenkbar gewesen, unser Radio auf den sozialdemokratischen Sender VARA einzustellen. Unsere Nachbarn, bekennende Mitglieder der Reformierten Kirche, hatten in dem Punkt jedoch weniger Skrupel. Durch die papierdünne Wand hörten wir die kabbelnden Stimmen aus einem beliebten Hörspiel über die Familie Durchschnitt. Vor allem Sjaan, das Hausmädchen, konnte man Wort für Wort verstehen, und so kam es dann auch des Öfteren vor, dass wir alle im selben Moment lachten, obwohl wir unterschiedliche Bücher lasen.
    Nie kniete ich mich froher zum Abendgebet hin als am Montagabend. Und wenn ich erst unter der Decke lag, jubelte eine innere Stimme: »Der Montag ist vorbei!«
    Am Dienstag war das Leben sehr viel erträglicher. Meine Mutter sang noch keine Psalmen, fing aber schon an, sie leise zu summen. Dass sie noch nicht sang, ergab sich aus dem, was der Waschtag nach sich zog: das Bügeln, die typische Dienstagsarbeit. Wenn ich heute durch die Stadt gehe und an einem willkürlichen Tag irgendwo in einem Zimmer eine Hausfrau (oder, was fast nie vorkommt, einen Hausmann) bügeln sehe, dann denke ich noch immer: »He, ist etwa Dienstag?«
    Beim Bügeln konnte meine Mutter Radio hören. Am Tag lauschte sie dem Kinderchor von Jacob Hamel, und am Abend, wenn mein Vater bei der freiwilligen Feuerwehr war, erledigte sie die restliche Wäsche beim »bunten Dienstagabendzug«, und dann war dieser Tag, dieses ruhige Intermezzo zwischen dem schrecklichen Montag und dem wunderbaren Mittwoch, auch schon wieder vorbei. Der einzige Makel, der dem Dienstag anhaftete, war, dass der Tag besonders geeignet zu sein schien, um Endivien zu essen, ein Gemüse, das so lange gekocht werden muss, bis es wie Schleim zwischen den Gabelzinken hindurchfließt, und dessen bitterer Geschmack auch dann noch bleibt, wenn man einen einzigen Teil Endivien mit sieben Teilen Äpfeln mischt.
    Als Kind war der Mittwoch mein Lieblingstag.
    Der Mittwoch ähnelte dem Samstag, mit dem Unterschied, dass man sich nicht waschen musste. Meine Mutter sang wieder Psalmen, der Montag lag noch in weiter Ferne, und nachmittags konnte man, nachdem man seine geliehenen Bücher in der Bibliothek gegen neue getauscht hatte, über die Röhren laufen.
    Rings um unsere Stadt wurden Polder mit Schlick aus dem Rotterdamer Hafen aufgeschüttet. Dieser Schlick wurde, mit Wasser vermischt, durch große Rohre gepumpt, die hoch über dem Polderland auf kreuzweise montierten Stahlstützen über Gräben, Wiesen und Stacheldrahtzäune geführt wurden. Und man konnte von der Stelle, wo der Sand aus den Rohren floss, auf dem eisernen Rücken bis dorthin gehen, wo der Schlick aus den Baggerschiffen geladen wurde. Hoch über dem Polder spazierte man, mühsam das Gleichgewicht haltend, viele Kilometer am Fluss entlang.
    Unter den eigenen Füßen lag dann die Stadt, es war, als würde man emporgehoben, als dürfte man – unantastbar und unverwundbar – sein eigenes Leben betrachten, das sich dort irgendwo in der Tiefe, wo man nicht auf sein Gleichgewicht achten musste, mühsam von Montag zu Montag fortschleppte. Weil man nur eine einzige Sorge hatte – ich muss verhindern, dass ich abstürze –, fielen alle anderen Sorgen weg. Unter den Füßen hörte man im Rohr das bedrohliche Geräusch des fließenden Schlamms und in der Ferne die flüchtigen Geräusche der Stadt, Stimmen,

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