Unter dem Deich
das Rasseln der Ankerketten, und man wusste, man war darüber erhaben, solange man von Röhre zu Röhre ging, nicht frei, nach links oder rechts auszuweichen, aber doch frei von allen Mühen, die das Leben in der Stadt so prägten. Wenn im Sommer die Sonne brannte, schien die Stadt ein Traumbild zu sein. Dann war es, als würde man etwas betrachten, das vor einhundert Jahren existiert hatte und das sich, ehe es endgültig verschwunden sein würde, noch einmal materialisierte. Oft ermahnten einen Spaziergänger, von den Röhren herunterzukommen, doch dem musste man nicht Folge leisten, denn sie befanden sich weit unter einem und würden einen niemals erreichen. Man war sicher, unantastbar, man ging die vielen riskanten Kilometer und schaute dabei mal zum sonnigen breiten Fluss hinüber und mal zur Stadt, wo am Ende des Nachmittags Dutzende Paare von Kinderschuhen vor diversen Küchentüren standen. In vielen Häusern saßen die Kinder in Socken vor dem Fernseher und sahen sich die Kinderstunde an. Manchmal überkam einen die Sehnsucht, auch auf diese Erfindung zu starren, doch auf den Röhren spazierend, schien dieser Wunsch zugleich unwirklich wie der im Sonnenlicht badende Turm der Grote Kerk.
Am Mittwochabend konnten wir – die Sendung wurde schließlich vom protestantischen Rundfunk ausgestrahlt – ohne Schuldgefühle dem Ratespiel »Mastklettern« lauschen, bei dem es darum ging, durch richtige Antworten einen Mast immer weiter nach oben klettern zu dürfen und sich am Ende die ganz oben hängende Wurst zu holen. Wir mochten den Moderator Johan Bodegraven und sangen:
Wer klettert mit bis oben in den Mast?
Wir holen uns die Wurst, macht euch drauf gefasst.
Nicht schlimm, wenn man am Ende doch verliert,
man hat zumindest sein Allgemeinwissen trainiert.
Keinem war damals bewusst, dass durch diese Sendung unsere Sprache um den Ausdruck »Es geht um die Wurst« bereichert wurde, ebenso wenig wie jemand auf die Idee gekommen wäre, dass das aus der Ferne so verträumt klingende Geräusch des Schlamms, der durch die Röhren zu seinem Bestimmungsort gepumpt wurde, derart schreckliche Konsequenzen haben würde.
Obwohl der Donnerstag der normalste Tag der Woche zu sein schien, gelang es meinem Vater doch immer wieder, seine graue Erscheinung mit einem Loblied aufzufrischen.
O Donnerstag, du schönster Tag der Tage,
am Morgen eine halbe Woche noch,
am Abend nur zwei Tage.
Der Donnerstag konnte eine solche Ode sehr gut gebrauchen. Ansonsten hätte man ebenso gut auf ihn verzichten können. Es war fast so, als diente der Donnerstag nur dazu, die Woche zu füllen; er war ein Tag ohne Gut und Böse. Ebenso wie der Freitag übrigens, der allerdings dadurch noch aufgeheitert wurde, dass am späten Nachmittag, so gegen fünf, in vielen Häusern unter dem Deich die Familienväter ihre Lohntüte, die sie kurz vorher in Empfang genommen hatten, ihren Ehegattinnen überreichten. Wie feierlich dieser Moment bei uns war! In der Stube herrschte für einen Moment Schweigen. Meine Mutter öffnete den Umschlag und gab meinem Vater wortlos sein Taschengeld: zehn Gulden.
Was den Samstag grau färbte, war der unausweichliche, gnadenlose Zwang, sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Alles wäre anders gewesen, wenn es dort, unter dem Deich, auch nur in einem der Häuschen eine Badewanne oder eine Dusche gegeben hätte. So aber musste man sich in einem Trog waschen. Als ich diesem Trog entwachsen war, nahm mein Vater mich mit zur Feuerwehrkaserne, wo er wie alle anderen Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr und alle Bauhofangestellten am Samstag kostenlos duschen durfte. Allerdings war es verboten, auch Verwandte von dieser Möglichkeit profitieren zu lassen. Zwischen Feuerwehrschläuchen und Motorpumpen hindurch musste ich hineingeschmuggelt werden. Es gab sechs Duschkabinen. Einmal in einer solchen Kabine angekommen, war ich vergleichsweise sicher, wobei es auch dann noch passieren konnte, dass ein Gemeindearbeiter oder ein Feuerwehrmann wissen wollte, wer der stille Duscher neben ihm war.
»He, Kraan, bist du das?«
Woraufhin mein Vater für mich erwiderte: »Bestimmt ist es der junge Onderwater.«
»Bist du das, Onderwater? Wieso sagst du nichts!«
»Wenn er duscht, hört er nichts!«, rief mein Vater.
Dann musste ich in der Dusche bleiben, bis der Gemeindearbeiter ganz fertig war und die Kaserne verlassen hatte. Bis es so weit war, stand ich da, das Wasser strömte an mir herab, und es war, als würde ich regelrecht
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