Unter dem Deich
weggewaschen. Schließlich verließ mein Vater die Dusche und sah draußen nach, ob jemand kam. Durch den Turm, in dem die Feuerwehrschläuche getrocknet wurden, schmuggelte er mich dann wieder hinaus.
Als legale Alternative zu dieser heimlichen Wäsche bot sich noch das Badehaus in der Taanstraat an. Mein Vater, der mich im Grunde nur ungern in den Duschraum der Feuerwehrkaserne hineinschmuggelte, konnte einfach nicht verstehen, dass ich nichts in der Welt erniedrigender fand, als mit sauberer Unterwäsche in das lärmerfüllte Badehaus zu gehen, wo alle einen anschrien und Obszönitäten über die nicht ganz bis zur Decke reichenden Kabinenmauern riefen, die bis heute in meinem Gedächtnis hinter Schloss und Riegel sitzen.
So wie der Montag hatte auch der Samstag sein eigenes Menü. Leckere Gerichte wie Grützbrei oder braune Bohnen mit Sirup waren tabu. Punkt halb eins stellte meine Mutter die Vorspeise auf den Tisch: Tomatensuppe. Wenn die anderen Familienmitglieder davon einen und ich zwei Teller gegessen hatten, erschien das samstägliche Hauptgericht: Erbsensuppe. Ich glaube nicht, dass ich diese Kombination von Vor- und Hauptspeise jemals als irgendwie besonders empfunden hätte, wenn meiner Frau nicht, als sie das erste Mal samstags bei uns aß, von der eigentlich doch so naheliegenden Farbabfolge von Rot und Grün übel geworden wäre.
Unmittelbar nach der roten und grünen Suppe wurde uns Kindern das Taschengeld ausbezahlt. Pro Person bekamen wir fünf Cent. In vielen anderen Häusern unter dem Deich wurde das Taschengeld ebenfalls gleich nach dem Mittagessen überreicht, was zur Folge hatte, dass die Süßigkeitenläden, die dafür extra offen blieben, gegen eins einen gewaltigen Ansturm der auf Zuckerstangen, Bonbons und Wundertüten versessenen Kinder zu verarbeiten hatten. Ich kaufte meine Wundertüte am liebsten in der Nieuwstraat. Dort gab es einen Händler, der Metallhaken statt Hände hatte. Wie dieser Mann seine Hände verloren hatte, wusste niemand. Man sagte, sie seien abgezittert, eine Erklärung, über die ich immer lachen musste. Ich wusste es besser, die Hände waren, als Vorgeschmack auf das, was uns allen bevorstand, schon mal wegsaniert worden. Während der Sanierung würden wir alle solche Haken bekommen, um zu verhindern, dass wir gegen die Abbrucharbeiter vorgingen. Deshalb schaute ich immer ganz genau hin, wenn der Händler mit seinen Haken eine Zuckerstange nahm. Ich wollte mir den Trick abgucken, um später selbst mit den gruseligen und gleichzeitig faszinierenden Greifern zurechtkommen zu können. Allerdings krampfte mein Herz sich bei dem Gedanken zusammen, dass ich, wenn ich keine Hände mehr hatte, niemals die Orgel in der Grote Kerk würde spielen können.
Nach der Wundertüte streckte sich der leere Samstagnachmittag in seiner ganzen Herrlichkeit vor uns Kindern aus; nichts anderes gab es mehr zu tun, als die geliehenen Bücher in der Evangelisationsbücherei am Hoofd gegen neue zu tauschen. Der Nachmittag glitt weiter dahin, ohne dass etwas passierte. Oft schien kurz die Sonne, weil es doch im Sprichwort heißt: »Macht das Wetter samstags Zicken, irgendwann lässt sich dennoch die Sonne blicken«. Um fünf erhob sich mein Vater von seinem Stuhl beim Herd. Geheimnisvoll lächelnd ging er in die Stadt, um eine Viertelstunde später mit gebackenem Fisch wiederzukommen. »Oh, was für eine Überraschung, gebackener Fisch«, sagte meine Mutter dann jeden Samstag.
Der Sonntag war, obwohl nach dem Bad am Samstag eine Katzenwäsche reichte, immer der stressigste Tag der Woche. Weil wir bis acht Uhr ausschlafen mussten, hatten wir nur eine Stunde Zeit für das Frühstück und um unsere Sonntagskleider anzuziehen und die Kirchenbibel zu suchen. Dann hieß es rennen, denn sonst saß auf dem Platz, den man als seinen Stammplatz betrachtete, schon jemand anders. Nach dem Gottesdienst musste man abermals rennen, um rechtzeitig zu Hause zu sein und den Kaffee für die zu Besuch kommenden Verwandten zu kochen. Anschließend war es Zeit fürs Mittagessen, und zwischendurch musste man, vor allem im Sommer, versuchen, einen Abstecher auf die Hafenmole zu machen. Nach dem Mittagessen musste man rennen, um rechtzeitig in der Sonntagsschule zu sein, und wenn die Schule aus war, begann der nächste Gottesdienst. Folglich saßen wir am Sonntagabend erschöpft unter der Lampe, lasen unsere Bibliotheksbücher oder lauschten dem Sonntagabendvortrag im Radio. An diesem hektischen Tag gab es nur
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