Unter dem Deich
eine einzige Ruhepause. Wenn um ein Uhr nach dem Mittagessen das Dankgebet erklungen war, schob mein Vater unsere beiden hohen Lehnstühle zusammen und legte sich zusammengekrümmt darauf. Wir durften uns nicht bewegen, keinen Schritt tun, kein Wort sagen. Das war jeden Sonntag aufs Neue die beklemmendste halbe Stunde der ganzen Woche. Jedes Geräusch, sogar das Umblättern einer Buchseite, weckte meinen Vater aus seinem Mittagsschlaf, und dann setzte er sich aufrecht hin und sagte mit giftgrün aufblitzenden Augen: »Könnt ihr nicht einmal in der Woche für ein halbes Stündchen still sein? Ich war fast eingeschlafen!«
Dann nickte er wieder ein, ein Schlummer, der so leicht war, dass ich es kaum wagte, mit den Augenlidern zu plinkern. Fuhr auf der Maas ein Schiff vorüber und hupte, dann imitierte mein Vater im Schlaf das Schiffshorn. Eine halbe Stunde lang saßen wir regungslos auf unseren Stühlen. Nach draußen durften wir nicht, denn schließlich war ja Sonntag. Jedes Ticken der Uhr kam mir vor wie ein Donnerschlag, und immer hatte ich am Sonntag das Gefühl, als wünschte unser Vater sich eigentlich, dass wir für ein halbes Stündchen tot wären. Man lauschte diesem seltsamen Symphonieorchester: dem eigenen Körper. Man holte Luft, man schluckte, die Finger knackten, im Bauch rumorte es. Mindestens zweimal in der halben Stunde reichte eines dieser Geräusche aus, um meinen Vater aus dem Schlaf fahren zu lassen. Dann schaute er einen mit seinem Blick voller sonntäglicher Wut an, man hätte meinen können, er liefere einen diesem schrecklichen Moment aus, damit man die übrige Woche dann vollkommen sorglos leben könnte.
Das Sanierungsgebiet wird verschont
Nach dem Samstagabendessen trage ich vier mit Margarine bestrichene und mit braunem Bastardzucker bestreute Butterbrote zur Taanstraat. Außer den Broten habe ich auch Kaffee und ein paar Tassen dabei. Beim Pumpwerk steige ich auf den Deich. Oben angekommen, packt der Sturm meine Tasche. Ich kann kaum noch atmen. Mit der flatternden Tasche gehe ich durch die Fenacoliuslaan zur Taanstraat. Dort ist es zappenduster, ich sehe nur zwei rot flackernde Öllampen. Als ich näher komme, zeigt sich, dass sie an einem rot-weißen Brett befestigt sind, das auf zwei Ständern quer über die Straße gelegt worden ist. Die beiden Lampen brennen mit unruhig flackernder Flamme, wohingegen meine Tasche kaum noch schlenkert. Jenseits der Lampen bemerke ich Flutplanken, ich sehe meinen Vater, höre die besorgten Stimmen der Aufseher.
»Wie soll das werden? Das Wasser steht jetzt schon bis zum vierten Brett, und die Springflut kommt erst heute Nacht.«
»Ja, wir müssen Sandsäcke holen.«
»Haben wir überhaupt genug?«
»Wir haben ausreichend Sandsäcke, um auf allen Planken zwei Schichten zu stapeln.«
An den Stellen, wo die Flutplanken in die Halterungen geschoben sind, leckt stark veröltes Wasser in die Taanstraat.
»Wir brauchen Putzwolle«, sagt einer der Aufseher. »Klaas, lauf du mal schnell ins Lager.«
Während Klaas Onderwater sich murrend entfernt, betrachte ich die langsam durchsickernden roten, grünen, gelben und blauen Wasserstrahlen, diesen harmlosen Kampf der Farben. Es sieht ständig so aus, als würden Rot und Grün keinen Daumenbreit voreinander zurückweichen. Gelb schlüpft unbemerkt hindurch, in Schlieren, Kreisen und Streifen, während Hellblau nur ab und zu auftaucht. Das Geräusch der zwischen den Flutplanken hindurchleckenden Wasserstrahlen hat etwas Beruhigendes. Jenseits der Flutplanken erstreckt sich eine riesige idyllische Wasserfläche bis zur fernen Schans. Aus dem Wasser ragen, umspült von kräftigen Wellen, die Gaslaternen, und ihr Licht scheint, als wäre es flüssig, auf die farbige Wasseroberfläche hinabzuschweben. Der Sturm übertönt das leise Summen der Gasbläschen. Eine dicke Ölschicht auf dem Wasser verhindert, dass der Sturm es heftiger aufwogen lässt; und trotzdem sieht es so aus, als würden die Brandungswellen auf die Flutplanken zurollen. Die Trossen, mit denen das Lotsenboot an den im Wasser verschwundenen Pollern festgemacht ist, sind straff gespannt. Wenn ich meine Augen halb zukneife, scheint es, als wären die Trossen am bunten Wasser selbst befestigt.
Von den Duckdalben ragen nur noch die weißen Spitzen aus dem Wasser. Das Lotsenboot ist so hoch gestiegen, dass die Masten die dahinjagenden Wolken zu berühren scheinen.
»Sag deiner Mutter, dass ich nicht vor zwölf nach Hause komme«, sagt mein
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