Unter dem Deich
einfach selbst. Du kannst doch bestimmt auch so gut nähen.«
»Ganz und gar nicht.«
»Hat deine Mutter dir das nicht beigebracht?«
»Wenn ich nähen wollte und einen Faden durchs Nadelöhr zu fummeln versucht habe, dann meinte meine Mutter immer: ›Langer Faden, faule Näherin.‹ Auch wenn mein Faden noch so kurz war. Sie wollte einfach nicht, dass ich nähe. Keine Ahnung, warum.«
»Vielleicht wollte sie verhindern, dass du auch ein Leben lang an der Nähmaschine sitzen musst.«
»Meinst du?«
Maud zuckte mit den Achseln und sagte: »Ich habe immer gedacht, ich könnte mit allen Leuten gut umgehen, aber vorhin kam es mir so vor, als sei jedes Wort, das ich sage, fehl am Platz.«
»Kommst du noch auf ein Glas Wein mit herein, um dich von dem Schreck zu erholen?«
»Ja, gern«, erwiderte Maud.
Im Wohnzimmer angekommen, sah sie, wie dicht der Nebel draußen geworden war. Von den Schiffen, die auf der Maas vorbeifuhren, konnte man nur noch die roten Positionslampen erkennen. Sie sah die Lampen im Nebel aufleuchten und langsam, trügerisch nahe, vorübergleiten. Es tat ihr gut, dass Maud und Jan sich die ganze Zeit unterhielten und ständig lachten. Ihr wurde bewusst, dass Maud, schockiert von dem, was sie gesehen und gehört hatte, die Beruhigung durch ein angenehmes, problemloses Gespräch mit jemandem aus ihrem eigenen Milieu brauchte. Vielleicht konnte sie mithilfe von Jan, der ja schließlich auch zu ihrer Welt gehörte, wiedergutmachen, dass sie Maud, ungewollt und unbeabsichtigt, in das offenbar schockierende Arbeitermilieu unter dem Deich hatte hinabsteigen lassen.
7
Nach diesem Abend sah sie Maud weniger häufig. Sie verstand sehr gut, dass Maud sich nach dem Besuch in der Sandelijnstraat innerlich von ihr abwandte. Aber sie verstand nicht, warum dies offenbar auch für Jan galt. Der war doch gar nicht mitgewesen? Warum kam es ihr dann so vor, als würde er seit diesem Abend jede Gelegenheit beim Schopf packen, um mit ihr zu streiten, sie zu verletzen und sie zu demütigen? Jedes Mal, wenn sie uneins waren, rief er am Ende triumphierend: »Du bist ein die Treppe raufgefallenes Arbeiterkind!«
Bei einem ihrer Wortwechsel sagte er: »Du? Du liebst nur dich selbst. Du bist nicht fähig, Wärme zu geben. Du kannst keinem Zuneigung schenken, du bist so von dir eingenommen, dass in deinen Augen alle anderen Menschen unbedeutend sind, du liebst nicht mal dein eigenes Kind.«
Sie wusste, dass diese Tirade eine neue Variante des alten Vorwurfs war: »Du hältst dich für etwas Besseres.« Sie dachte: »Alles wäre anders gewesen, wenn ich unter Menschen aufgewachsen wäre, die alle etwas ›Besseres‹ sind. Hätte ich es dann auch so selbstverständlich gefunden, in Hotels zu übernachten, in Restaurants zu essen, das Wort ›lunch‹ zu benutzen, mit dem Kalender in der Hand Termine zu vereinbaren? Hätte ich dann auch dem Klempner, Elektriker und Installateur so ungeduldig Anweisungen erteilen können? Wäre ich dann, angenommen, ich hätte Personal, auch in der Lage, es anzuschnauzen? Würde ich dann ein solches Ritual aus dem morgendlichen Aufstehen machen? Würde ich im Morgenmantel, im Peignoir, Schlafrock oder im Kimono am Frühstückstisch sitzen? Würde ich dann auch Sport treiben? Würde ich am Wochenende spät ins Bett gehen und morgens lange schlafen? Würde ich dann jeden Tag ein paar Gläser Alkohol trinken? Würde ich ganz selbstverständlich zu Freunden zum Essen gehen und diese Freunde zum Essen zu mir nach Hause einladen? Würde ich dann auch so einfach sagen: Die haben keinen Geschmack? Würde ich mit hochherziger Verachtung auf Bücher von Autoren wie Klaas Norel herabsehen? Würde ich dann auch sagen können: Der hat keine Manieren? Würde ich es ganz selbstverständlich finden, jedes Jahr zwei oder drei Wochen in Urlaub zu fahren? Würde ich bei jedem Furz, der quer sitzt, in die Sprechstunde zum Arzt rennen? Würde ich andere dann auch auf mich warten lassen? Würde ich dem großen Heer der Amateurfotografen beitreten? Würde ich dann auch zu denen gehören, die auf andere herabschauen?
»Warum sagst du nichts?«, fragte Jan.
»Was soll ich sagen? Du hast vollkommen recht. Wenn jemand wohl oder übel wieder den ganzen Abend mit Gästen bei Tisch sitzen muss, dann folgt daraus logischerweise, dass er nur sich selber liebt.«
»Aber warum denn ›wohl oder übel‹?«
»›Wohl oder übel‹, weil man ein solches Essen vorbereiten muss. Man muss sich Gedanken darüber machen,
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