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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Pietät: schwarz getünchte Wände, die das fahle Kunstlicht der Bullaugenlampen verschlucken, ein pseudosakrales Bleiglasfenster. Früher hing sicher ein Kreuz an der Wand, das man dann im Zuge neuzeitlicher Multikulti-Korrektheit entfernt hat, um muslimische Mitbürger nicht zu verletzen. Nun gibt es hier für keine Religionsgemeinschaft ein Symbol der Hoffnung. Nichts lenkt den Blick ab von der länglichen Plexiglashaube, unter die vom Kühlraum der Pathologie aus die Bahre mit den sterblichen Überresten des14-jährigen Jonny Röbel geschoben wird. Auf dass seine Stiefeltern sich von ihm verabschieden können und anerkennen, dass Karl-Heinz Müller und die Seinen ihrem Jungen nicht auch noch das Gesicht genommen haben. Im Vorraum des Trauerraums lehnt hochkant eine Liege an der Wand - einsatzbereit, falls einer der Trauernden kollabiert.
    Judith betrachtet Jonnys Angehörige: Die dünne Rothaarige mit dem steinernen Gesicht, deren Hand immer wieder über das Plexiglas fährt, als streichele sie Jonnys Haut. Den gutaussehenden Mann, der auf einen der schwarz gepolsterten Stühle mit den Metallbeinen gesunken ist und aussieht, als würde er jede Sekunde die Liege benötigen. Zwischen den beiden verläuft eine unsichtbare, hocheffiziente Trennwand. Vermintes Gelände, denkt Judith. Wie damals an der innerdeutschen Grenze. Frank Stadler hält Informationen zurück, möglicherweise weil er der Täter ist oder weil er den Täter decken will. Seine Frau ist meiner Meinung nach unschuldig, aber auch sie ist nicht vollkommen ehrlich. Wir müssen den Druck erhöhen, hat Manni gesagt. Früher hätte Judith ihm zugestimmt. Jetzt fühlt sie sich vor allem unendlich müde und in diese Müdigkeit drängen sich Erinnerungen. Erinnerungen an Patrick, den für immer verlorenen Freund und Teamkollegen, an David, an Margery Cunningham, und auf einmal ist Judith nicht mehr so sicher, ob den Angehörigen eines Opfers Verrat zugemutet werden sollte. Und doch ist das unvermeidbar, die dunkle Seite einer Ermittlung: Zweifel säen, damit irgendwann jemand sein Schweigen bricht, auf dass es einen Durchbruch geben kann, im Namen der Gerechtigkeit.
    Margery Cunningham wird eine offizielle Anfrage um Amtshilfe an die deutsche Kriminalpolizei richten. Sie wird Judith darin erwähnen. Judith hat versprochen, die Ermittlungen von Deutschland aus zu unterstützen. Sie hat versprochen, Davids Vergangenheit zu durchleuchten und nach ihm zu fahnden, obwohl sie es für unwahrscheinlich hält, dass er in Deutschland ist. Doch das hat Margery Cunningham nicht interessiert. Bedingungslose Kooperation hieß der Preis, den Judith zahlen musste, damit Margery sie per Kleinflugzeug nach Toronto bringen ließ. Natürlich hat sie zugestimmt.Doch vielleicht war dieser Preis zu hoch und wird sie etwas kosten, was sie noch gar nicht richtig ermessen kann.
    »Wir müssen Ihnen nochmals Fragen stellen«, sagt Manni in Richtung des gläsernen Schneewittchensarkophags.
    Wie in Zeitlupe hebt die Rothaarige den Kopf. »Sie haben keine Kinder, richtig?«
    Manni schüttelt den Kopf.
    »Sie, Frau Krieger?«
    »Nein.«
    Martina Stadler nickt. »Natürlich nicht. Sonst wären Sie nicht hier.«
    »Wir …«
    »Sie können das nicht verstehen. Niemals. Wie es ist, ein Kind zu lieben. Wie es ist, ein Kind zu verlieren.«
    Der Mann auf dem Stuhl sieht jetzt aus wie ein wachsames Tier.
    »Kinder zu haben ist ein Ausdruck der Hoffnung. Und eine lebenslange Lektion im Loslassen«, flüstert Martina Stadler. »Das hat meine Schwester bei Jonnys Taufe gesagt, als ich seine Patentante wurde. Und sie hatte Recht. Als ich selbst Kinder bekam, habe ich das verstanden. Das erste Lächeln, der erste Zahn, der erste Schritt, das erste Wort, Kindergarten, Schule, Sportverein, Freunde. Man tut und macht und hofft und bangt. Und die ganze Zeit muss man vertrauen, dass es schon gut gehen wird, denn Garantien gibt es keine. Man will ein gesundes Kind und hat plötzlich ein krankes. Will einen Fußballer und bekommt einen Geiger. Man lernt, das hinzunehmen oder sogar zu mögen. Man sagt sich: Hauptsache, die Kinder sind glücklich. Man lernt, aus ihrem Glück das eigene Glück zu ziehen, denn mehr bekommt man nicht zurück, jedenfalls nichts, auf das man bauen könnte. Von wegen Kinder haben.«
    Wieder streichelt Martina Stadler das Plexiglas. Beugt sich darüber, betrachtet Jonnys Gesicht.
    »Loslassen. Aber das hier hat Susanne nicht gemeint, das hätte sie niemals hinnehmen wollen, das kann

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