Unter dem Eis
Unternehmungslustig. So wie an dem Morgen im Wäldchen, bevor sie den Dackel fanden. Sie versucht sich zu erinnern. Das Kraftwerk, das Wäldchen. Die Hoffnung, weil der Tag so jung und unschuldig erschien. So voller guter Möglichkeiten. Dann ist Barabbas weggelaufen, dann hat sie sein schreckliches Knurren gehört. Warum hat der Dackel eigentlich nicht gebellt oder zumindest gejault? Hunde, die sich begegnen, geben doch Laut? Oder hat sie das einfach nicht gehört? War das eine weitere Laune ihres Körpers?
Der Mann fällt Elisabeth ein. Eine Gestalt, die sie gesehen und doch nicht gesehen hat, die sie zu kennen glaubt und doch nicht identifizieren kann. Sie wünscht sich die Jugend zurück, den Mut der Jugend, etwas zu riskieren, weil man ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass man mit den Konsequenzen leben kann. Jetzt ist das anders. Eine schwerhörige alte Frau mit Gedächtnislücken, die tote Hunde in Koffern vergräbt und Mitbürger denunziert, weil sie Gespenster sieht – da ist der Weg, bis jemand sie für unzurechnungsfähig erklärt, nicht mehr weit.
Elisabeth geht in ihren Garten, streift die Birkenstocksandalen ab, fühlt das Kitzeln der borstigen Sommerhalme, wird für Sekundenbruchteile wieder zum jungen Mädchen, das morgens barfuß über taugetränkte Wiesen zu den Ställen springt, um nach den Hühnern zu sehen. Barabbas drängt sich an ihre Seite, gemeinsam gehen sie zu Elisabeths Lieblingsplatz unter dem Kirschbaum. Langsam. Schritt für Schritt.
Sie werden zurückkommen. Sie müssen zurückkommen. Sie weiß, dass sie zurückkommen werden. Was sie nicht weiß, ist, was sie ihnen sagen soll.
Das Einfamilienhaus, in dem Tim Rinker mit seinen Eltern lebt, wirkt verlassen, auch nach mehrmaligem Klingeln öffnet niemand die Tür.
»Kaffee«, sagt die Krieger, als sie wieder im Auto sitzen. »Kaffee, ein Brötchen und Tabak. Bitte, Manni.«
Unter ihren Augen haben sich helle Ringe gebildet, als würde ihrem Gesicht ganz allmählich die Farbe entzogen. In den intensiven Lagerfeuergeruch, den sie verströmt, mischt sich Schweiß.
»Hab lange nicht mehr geschlafen«, murmelt sie. »Bin direkt vom Flughafen ins Präsidium.«
Manni entdeckt einen Kiosk, der alle Bedürfnisse seiner Kollegin zu erfüllen verspricht, und hält an. Schlafen. Vergessen. Miss Cateye in einem Garten besuchen. In einem Hausboot an grünen Deichen vorbeigleiten. Ein fremdes, friedliches Land besuchen. Ein Land ohne weinende Mütter und tote Väter. Ein Land ohne Kinder, die zu Tode geprügelt wurden. Judith Krieger kommt kauend zurück, sinkt auf den Beifahrersitz und trinkt ihren Kaffee mit geschlossenen Augen.
»Wenn unser Täter doch ein Schüler in Jonnys Alter ist – wie hat er dann den Dackel nach Frimmersdorf gebracht, ohne Auto?«, fragt Manni.
»Gute Frage.«
Ein jugendlicher Täter oder ein erwachsener? Hin und her reden sie, und als sie das Bertolt-Brecht-Gymnasium erreichen, sind sie trotzdem keinen Schritt weiter. Immerhin öffnet die Krieger endlich die Augen. Angewidert verzieht sie das Gesicht, als sie erst die schmuddelige, mehrgeschossige 70 er- Jahre-Architektursünde und dann die stählernen Streben des Zauns in Augenschein nimmt.
»Stell dir mal vor, du musst da jeden Morgen durch.«
»Na und? Ist doch nur ein Zaun.«
»Vielleicht«, sagt sie.
Das Lehrerzimmer liegt im ersten Stock zum Schulhof hinaus. Aktenschränke an den Wänden, ein Sammelsurium von Thermoskannen, Tassen, Butterbrotdosen, Äpfeln und Schulunterlagen auf den abgestoßenen Tischen, ein riesiges schwarzes Brett mit Stundenplänen, Pausenaufsichtsplänen und Gewerkschaftsagitation. Die Nachricht vom Tod eines Schülers hat sich schon herumgesprochen, dämpft die Stimmen der wenigen Lehrer, die hier ihre Freistunde absitzen.
»Tim Rinker«, sagt Manni. »Wo finden wir den?«
Eine der Lehrerinnen steht auf und verschwindet im Flur, nach einer Weile kommt sie mit dem Schuldirektor zurück. Ein Mann um die 60, der im runden Gesicht Sorgenfalten feilbietet.
»Tim Rinker ist heute nicht zur Schule gekommen. Unentschuldigt, wie ich gerade erfahren habe. Seine Eltern erreiche ich nicht. Bestimmt melden sie sich noch. Die Rinkers sind eine tadellose Familie.«
Tadellos, was immer das heißt. Manni überlegt, wie er weiter vorgehen soll. Die Krieger geht zur Fensterfront, vor der sich Topfpflanzen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls befinden. Die Krieger scheint sie nicht zu sehen. Sie starrt durch die blinden Fenster
Weitere Kostenlose Bücher