Unter dem Eis
Vater beiseite, den Urinbeutel am Infusionsgalgen – Galgen, noch so ein absurd makabres Wort –, die weißen Speichelbläschen in den rissigen Mundwinkeln, die Worte, die sich nie mehr zurücknehmen lassen.
Der Rechtsmediziner ist jetzt mit der äußerlichen Begutachtung fertig. Nur schwach ausgeprägte Totenflecke auf der rechten Seite. Keine Stich- oder Schusswunden, keine Würgemale, schon vorab haben die Röntgenaufnahmen offenbart, dass es keine frischen Knochenbrüche gibt. Nackt, blass, leicht gelblich liegt Jonny Röbel auf dem Stahltisch und wirkt beinahe unversehrt. Wären da nicht die Blutergüsse an Armen, Beinen und im Brustbereich, der gelbbräunlich schimmernde Bluterguss an seinem linken Auge, die aufgesprungene Lippe, die jedoch so aussieht, als habe sie schon vor seinem Tod zu heilen begonnen. Woher all diese Prellungen? Hat JonnyRöbel, der Späher, der Kämpfer für Gerechtigkeit, sich vor seinem Tod geprügelt?
Karl-Heinz Müller macht sich jetzt am Brustkorb zu schaffen.
»Denk an die Angehörigen«, murmelt Manni völlig unpassend, denn eine Leichenschau unterliegt ihren eigenen Ritualen, und das schichtweise Abtragen der Haut, die Öffnung des Körpers, die Entnahme der Organe, bis der Tote kein Geheimnis mehr hat, ist nun einmal ihr Sinn. Karl-Heinz Müller wirft Manni einen prüfenden Blick zu und Manni zwingt sich zu einem Grinsen. In seinen Augen ist es jedes Mal ein Wunder, dass Karl-Heinz die Kandidaten am Ende einer Obduktion wieder so zusammenflickt, dass sie einigermaßen präsentabel sind. Ihm bleibt nichts übrig, als auch diesmal auf die Künste des Rechtsmediziners zu vertrauen und unterdessen möglichst wenig an Martina Stadler zu denken. Die Klimaanlage summt leise, es ist, als ob Manni niemals weg gewesen wäre von hier, auch wenn die letzte Obduktion, der er beiwohnte, über ein halbes Jahr zurückliegt. Die schöne Darshan. Auch noch beinahe ein Kind. Wie damals hat Manni wieder das Gefühl, jeden Kontakt zur realen Welt zu verlieren. Tag, Nacht, Sommer, Winter – hier unten im Obduktionskeller des Rechtsmedizinischen Instituts gibt es nur drei stählerne Tische, gekachelte Wände, Neonlicht und Abflüsse. Hier unten hört man nur das Sirren der Knochensägen, das Klappern der Instrumente, das lateinische Fachkauderwelsch, das die Obduzenten ins Mikrofon sprechen, das leise Quietschen von Gummisohlen auf dem grau gefliesten Boden.
Karl-Heinz Müller unterbricht sein Gebrabbel und richtet sich auf. »Kein Wasser in der Lunge.«
Also nicht ertrunken. Manni räuspert sich. »Hinweise auf Drogen?«
»Warten wir die Ergebnisse der Toxikologie ab.«
Warten, na klar. Mannis Mund ist trocken, sein letztes Fisherman’s hat sich aufgelöst, er hat vergessen, Ersatz zu kaufen, er ist nicht zum Mittagessen zu seiner Mutter gefahren und auch nicht zum Kaffee, er weiß nicht einmal, ob er es zum Abendbrot schaffen wird, denn eine Leichenschaudauert, und außerdem war er so blöd, Martina Stadler zu versprechen, dass sie Jonny nach der Obduktion noch einmal sehen darf. Er hat seine telefonische Entschuldigung in das Schweigen seiner Mutter gesprochen, wie schon so oft. Die Arbeit, Ma, du weißt doch, wie das ist, es ist wirklich wichtig, ich beeile mich, tut mir leid.
Karl-Heinz Müller deutet auf einen halbmondförmigen Bluterguss unter Jonnys Rippen.
»Könnte ein Schuhabdruck sein.«
Vorsichtig vermisst er die Prellung, zieht dann Hautschicht für Hautschicht ab, die sein Assistent akribisch konserviert. »Hämatom, Einblutungen«, versteht Manni, der Rest ist Fachchinesisch. Das Skalpell öffnet die Bauchhöhle, nichts ist für Mannis Augen zu erkennen, nur stinkendes, schwarzrotes Blut, doch Karl-Heinz pfeift ein paar Takte von Queen, als habe er soeben im Lotto gewonnen.
»Massive innere Blutungen«, erklärt er schließlich. »Deshalb haben wir auch diese eklatant unterentwickelten Totenflecken.«
Innere Blutungen – Manni lehnt sich an einen ungenutzten Obduktionstisch, während Müller und einer seiner Assistenten in Jonnys Leib herumtupfen, schneiden, Organe herausheben und wiegen. Innere Blutungen – was um alles in der Welt hat das nun wieder zu bedeuten? Ist Jonny Röbel womöglich gar nicht umgebracht worden, sondern an einer Krankheit gestorben? Aber wer hat ihn dann in den Teich geworfen? Wo war er, bevor er starb? Dass er nicht viel länger als 48 Stunden tot sein kann, scheint immerhin einigermaßen klar zu sein.
»Im Magen befinden sich
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