Unter dem Eis
sie nicht gemeint haben. Das ist nichts, was man von Eltern verlangen darf.«
Abrupt löst sie sich von dem Sarkophag.
»Und jetzt gehen Sie bitte und lassen uns hier in diesem Trauerraum mit Jonny allein. Und wenn wir hier fertig sind, können wir möglicherweise Fragen beantworten.« Sie greift in ihre Handtasche. »Hier, sorgen Sie dafür, dass Jonny seine Taschenlampe bei sich hat.«
Das geht nicht, will Judith sagen, aber Manni streckt die Hand aus und nickt Martina Stadler beinahe verschwörerisch zu.
Aus Karl-Heinz Müllers Büro im zweiten Stock dringt das stakkatoartige Geklapper einer Computertastatur. Der Rechtsmediziner winkt sie herein und nimmt seine Hackerei augenblicklich wieder auf, ein offensichtlich ausgeklügeltes Vierfingersystem. Neben ihm, in einem übervollen Aschenbecher, verglimmt eine Kippe. Rund um seinen Schreibtisch türmen sich Ordner, Fachlexika und CDs. In einem Regalfach grinsen ein angebissener Milka-Schokoladenosterhase und ein Totenschädel neben Karl-Heinz Müllers Boulekugeln um die Wette.
»Tut mir leid wegen des Turniers«, sagt Judith.
»War’s schön in Kanada?«
»Ist ’ne längere Geschichte. Was machen wir mit den Stadlers? Die sind unten im Trauerraum und wollen nicht gehen.«
»Manche brauchen länger. Manche kommen mehrmals. Haben wir alles schon gehabt. Lass sie. Da unten stören sie nicht.«
Manni legt die Taschenlampe auf den Schreibtisch. »Gib die dem Jungen, ist gegen die Vorschrift, weiß ich, tu’s trotzdem und frag nicht, ja?«
Der Rechtsmediziner hört auf zu tippen. Scheint widersprechen zu wollen. Nickt dann.
»Hast du die Laborergebnisse?«, fragt Manni.
»Keine Drogen, kein Gift.«
»Sicher?«
Karl-Heinz Müller verschränkt die Arme vor der Brust und mustert Manni mit der Physiognomie eines hungrigen Habichts.
»Ein gemeinsamer Drogentrip von Herr und Hund scheidet definitiv aus.«
»Also vielleicht doch kein Mord im Jugendlichenmilieu«, sagt Judith.
»Scheiße.« Manni schiebt sich ein Fisherman’s in den Mund. »Langsam hab ich echt die Faxen dicke.«
Es ist nicht vorbei. Sie werden zurückkommen mit ihren Fragen. Carmen. Die Polizei. Langsam geht Elisabeth durch ihr Haus, das verändert ist, fremd. Ihre Tochter hat über das Wochenende ganze Arbeit geleistet. Hat aufgeräumt, geputzt und gewaschen. Sogar Barabbas hat sie sich vorgenommen. Jetzt riecht er nach Kamillenshampoo und sein Fell glänzt seidig wie lange nicht mehr. Carmen hat auch die Kirschen, Erdbeeren und Bohnen geerntet. Sie haben gemeinsam Gewürzgurken eingelegt und auf der Terrasse zu Abend kalte Ente getrunken: Weißwein mit Sekt und Zitrone, wie früher, als Heinrich noch lebte. Es ist doch schön, nicht allein zu sein, hat Elisabeth gedacht. Willst du nicht doch noch mal über einen Umzug nachdenken, Mutter?, hat Carmen da gefragt. Frimmersdorf ist doch viel zu weit weg. Es gibt da in Köln diese nette Seniorenresidenz. Elisabeth hat nicht antworten können, sondern stattdessen zu zittern begonnen. Schon gut, Mutter, schon gut. Erhol dich erst mal. Die Besorgnis in ihrer Stimme hat Elisabeth einen Stich versetzt, viel mehr als Carmens ewige Ungeduld. Viel mehr als die abschätzenden Blicke, mit denen Carmen sie taxiert, sobald sie sich unbeobachtet glaubt. Immer wieder hat sie gefragt, wie ihre Mutter nur auf die Idee kommen konnte, mit einem toten Dackel dieses groteske Schauerstück zu inszenieren. Warum denn nur, Mutter? Das musste doch auffliegen, das war doch klar.
Jetzt ist Carmen wieder in Köln, wird gleich ihr Reisebüro aufschließen, den Kunden Träume erfüllen und hin und wieder vor dem Spiegel in dem engen Toilettenvorraum die Sorgenfalten auf ihrer Stirn mit der Puderquaste abtupfen. Ich habe ihr ihr freies Wochenende genommen, denkt Elisabethmit schlechtem Gewissen. Ich hätte sie nicht so beanspruchen dürfen.
Sie schenkt sich ein Glas Leitungswasser ein. Trink, Mutter, kein Wunder, dass du umkippst, wenn du bei dieser Affenhitze nichts trinkst, hört sie Carmens Stimme. Viele alte Leute verdursten einfach. Also trink, damit du mir erhalten bleibst. Beinahe eine Liebeserklärung. Ganz ungewohnt für Carmen. Elisabeth zwingt sich, das Glas zu leeren. Wie kann es sein, dass sie keinen Durst spürt, wenn ihr Körper Flüssigkeit braucht? Wieso lässt er sie auch dabei im Stich?
Sie hat Carmen nicht erzählt, was Barabbas getan hat. Sie hat auch dem jungen blonden Kommissar nichts davon erzählt. Der Schäferhund sieht sie an.
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