Unter dem Eis
Verstärkung der »SOKO Tourist«. Manni denkt an seine Mutter und ihren ordentlich eingedeckten Frühstückstisch, an dem er wieder nicht lange genug gesessen hat. Er hat im Präsidium nichts vom Tod seines Vaters erzählt. Er kann nicht riskieren, dass sie Aufgaben von ihm wegorganisieren, um ihn zu schonen, oder ihn gar vom Dienst freistellen, jetzt, wo er so dicht dran ist an seiner Rehabilitation im KK 11 .
Die Tür öffnet sich und Judith Krieger betritt den Besprechungsraum. Lautlos, beinahe vorsichtig, doch sobald die Kollegen sie bemerken, entsteht Unruhe. Die Krieger lächelt, macht eine Abwehrgeste mit den Händen wie ein Popstar, der sein tosendes Publikum zu beschwichtigen versucht, aber wie bei einem Konzert braucht es eine Weile, bis wieder Ruhe einkehrt. Die Krieger sieht verwildert aus, ja tatsächlich, anderskann man es nicht beschreiben, denkt Manni, verwildert, als käme sie direkt von einer Buschsafari. Ihre Locken springen ungebändigt um ihr Gesicht, das schmaler geworden ist und dessen Haut trotz der tiefen Sonnenbräune um die Augen rum durchsichtig wirkt. Sie trägt Cargohosen, die in die Wäsche gehören, ein schwarzes Tanktop mit einem Riss im Dekolleté, ein orangefarbenes Kapuzenshirt ist um ihre Hüften gebunden. Über ihrer Schulter hängt ein vollgestopfter Rucksack.
»Willkommen zurück, Judith. Die Feierlichkeiten müssen wir leider verschieben.« Im Gegensatz zu Manni scheint Millstätt sich weder über das Outfit noch über die mehr als einstündige Verspätung seiner einstigen Lieblingsermittlerin zu wundern. Die Krieger nickt, lässt den Rucksack auf den Nadelfilz plumpsen und lehnt sich an die Wand. Sie wirkt, als sei sie keinesfalls sicher, ob sie bleiben wolle.
Zwanzig Minuten später sitzen sie trotzdem zu dritt in Millstätts Büro: Judith, Manni und Millstätt. Judith Krieger stürzt einen Kaffee hinunter und schenkt sich nach. Ihr Körper verströmt den unverkennbaren Geruch eines Lagerfeuers, ihre Fingernägel haben Trauerränder. Auf ihren gebräunten, von Sommersprossen übersäten Armen schält sich die Haut in silbrigen Schüppchen. Das letzte Zusammentreffen in dieser Dreierkonstellation fand im Winter neben der Leiche eines Mörders in einem nasskalten Wald statt. Wir reden später, hat der KK-11-Leiter damals gesagt. Aber dann hat Judith sich beurlauben lassen und Manni ist versetzt worden, und geredet hat niemand, jedenfalls nicht mit ihm.
»Wir haben also drei Verdächtige«, fasst Millstätt zusammen, als Manni seinen Bericht über den Stand der Dinge im Fall Jonny Röbel beendet hat. »Jonnys Stiefvater, den Indianerclubleiter Hagen Petermann sowie, was ich persönlich für sehr bedenkenswert halte, einen Täter aus dem Schulumfeld, da offensichtlich Ecstasy im Spiel ist – eine Droge, die sich ja vor allem bei Jugendlichen großer Beliebtheit erfreut.«
»Wann hat Karl-Heinz die Laborergebnisse?«, fragt die Krieger.
»Er ruft mich an«, antwortet Manni.
»Besser, du fragst nach«, sagt Millstätt.
Eine Anweisung, nicht, danke, Manni, für deinen Bericht und die Überstunden. Manni wirft seinen Kuli auf den Tisch. »Ich muss sowieso gleich rüber in die Rechtsmedizin, bin da mit den Stadlers verabredet.«
»Ich komme mit.« Judith Krieger steht auf. »Irgendwo muss ich ja anfangen.«
Axel Millstätt nickt ihnen zu. »Ich hoffe auf schnelle Fortschritte.«
Auf der Severinsbrücke staut sich der Verkehr, die Hitze in der Stadt hat sich während Judiths Abwesenheit zu zähflüssiger Schwüle verdichtet. Kölnklima. Nichts hat sich verändert. Nichts und alles. Manni sitzt neben ihr, verbissen auf den Verkehr konzentriert. Jede seiner Körperzellen signalisiert: Rühr mich nicht an. Auf seinen Handrücken kleben Pflaster. Einen Moment lang ist die Sehnsucht nach den gemeinsamen Einsätzen mit Patrick wieder da, erscheint es Judith ganz und gar unmöglich, dass es diese Einsätze nie mehr geben wird, weil von Patrick nur noch ein Grabstein geblieben ist. Auf Mannis Händen kleben Pflaster. Ein zusammengepflastertes Team sind wir, denkt Judith. Wir reden später, Manni. Wenn ich es irgendwie geschafft habe, zu duschen, die Klamotten zu wechseln, etwas zu essen, mich in die Akten einzulesen und Berthold über den Tod seiner einzigen Freundin zu informieren.
Der Trauerraum des Rechtsmedizinischen Instituts befindet sich im Tiefparterre und entsprach in den 70 er Jahren vermutlich dem neuesten Standard staatlich verordneter Innenarchitektur und
Weitere Kostenlose Bücher