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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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nachdenklich, als spreche er zu sich selbst. »Ein paar der Schüler vom Gymnasium da drüben stehen da drauf. Irgendjemand muss sie ihnen verkaufen. Praktisch, wenn man in der Nähe einer Schule lebt.«
    Der Mann im Planschbecken langt hinter sich, öffnet mit einem Plastikfeuerzeug eine neue Flasche Bier, starrt auf den Fernseher, zu Manni, auf seine Flasche, dann wieder auf den Fernseher. Er ist nervös. Manni unterdrückt ein Grinsen, widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Bauschutthaufen. Vielleicht ist Ralf tatsächlich die Quelle für das Ecstasy. Auf jeden Fall sieht der Teppichrest in diesem Bauschutthaufen dem, von dem das Labor behauptet, Jonnys Dackel sei darin transportiert worden, verdammt ähnlich. Diese Tatsache und der Neisser’sche Verwandtschaftsbezug zu Frimmersdorf, das man von Köln aus durchaus mit einem Mofa erreichen kann, dürften für einen Durchsuchungsbeschluss genügen.
    Sein Handy beginnt zu vibrieren, das Display zeigt die Nummer vom KK 66 an.
    »Die Eltern von Tim Rinker haben ihren Sohn soeben vermisst gemeldet«, sagt Petra Bruckner. »Sie sind völlig außer sich. Ich dachte, ich sage dir gleich Bescheid.«

    Berthold Prätorius ist schon da. Die Haustür von Charlottes Villa ist nur angelehnt, die Rollläden sind hochgezogen. Das Innere des Hauses riecht immer noch nach Desinfektionsmitteln, Mottenkugeln, Verlassenheit. Die Wände scheinen sich Judith entgegenzustemmen. Sie glaubt, keine Luft zu bekommen, jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Hat sie Charlotte wirklich in Kanada gefunden? Einen Moment lang erscheint das so vollkommen irreal wie ein Fiebertraum. Berthold kommt ihr aus dem Wohnzimmer entgegen, zögernd, als sei er ganz und gar nicht sicher, ob er mit Judith sprechen will. Sie geben sich die Hand, sehen sich an, keiner von ihnen sagt etwas. Seine Handfläche ist lauwarm und feucht, will sich nicht mehr von Judiths lösen. Sie zählt stumm bis zehn, dann bis zwanzig, dann zieht sie ihre Hand zurück.
    »Charlotte ist tot«, sagt Judith, und Berthold zuckt zusammen, obwohl er es natürlich auf eine Art schon wusste. »Es gibt keinen Zweifel«, fügt sie hinzu. »Du hattest Recht mit deinen Sorgen. Es tut mir leid.«
    Die Wände scheinen noch näher zu rücken. Mit schwerfälligen Schritten geht Berthold zur Hausbar, gießt sich einen Cognac ein. Er schenkt sich noch einmal nach, verschließt die Hausbar wieder und setzt sich in einen Sessel, den Cognacschwenker fest in der rechten Hand. Was wird er tun, wenn dieses Gespräch zu Ende ist? Zurück zu seinen Computern fahren, die sich im Gegensatz zu Lebewesen mit Geduld und Fachkenntnis reanimieren lassen? Allein in seiner Wohnung sitzen, die Wände anstarren und den Verlust seiner einzigen Freundin zu begreifen versuchen? Judith weiß nichts von Berthold, sie will nichts von ihm wissen, will sich nicht an den Jungen mit den tintigen, zerbissenen Fingernägeln und dem flackernden Blick erinnern, will ihn nicht in ihrem Leben haben. Trotzdem ist sie mit ihm verbunden.
    Sie unterdrückt den Impuls, sich eine Zigarette zu drehen, weil ihr das aus irgendeinem Grund pietätlos erscheint. Stattdessen setzt sie sich unter die Ölbild-Jagdhunde mit den blutigen Lefzen auf das Sofa und beginnt zu erzählen. Sachlich, im Tonfall der geschulten Kommissarin, die so das Unheil von sich fern zu halten gelernt hat. Erzählt von demBesuch in Atkinsons Unibüro und in seinem weißen Haus, von Charlottes offensichtlichem Entschluss, Eistaucher zu beobachten, von dem deutschstämmigen Guide David Becker, der Charlotte in die Wildnis geflogen hat. Von Charlottes Lager, den verdorbenen Lebensmitteln, den Knochen auf der Insel, die die kanadische Polizei inzwischen dank Zahnabgleich zweifelsfrei als Charlottes sterbliche Überreste identifiziert hat. Vom spurlosen Verschwinden des Guides, der vielleicht, vielleicht aber auch nicht, etwas mit Charlottes Tod zu tun hat.
    »Da es keine Schuss- oder Stichwunden an den Gebeinen gibt, ist es quasi unmöglich, die Todesursache noch festzustellen«, beendet Judith ihren Bericht. »Vielleicht war es ein tragisches Unglück.«
    »Wie ist sie auf die Insel gekommen, wenn ihr Kanu am anderen Ufer lag?« Bertholds Rechte schwenkt den Cognac im bauchigen Glas. Gleichmäßig. Mechanisch.
    »Ich nehme an, sie ist geschwommen.«
    Berthold stellt das Glas auf den Tisch. »Sie konnte nicht schwimmen.«
    »Bist du sicher?«
    »Sie wäre als Mädchen beinahe ertrunken. Sie hatte Angst vor dem Wasser. Ich halte es

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