Unter dem Eis
Summen der Fliegen, die glasigen Augen, das abgeschnittene Ohr. Der Duft wilder Kamille und der Himmel so blau, als gäbe es die Grausamkeit der Menschen nicht.
»Wir haben inzwischen rekonstruiert, dass jemand den Dackel nach Frimmersdorf gebracht hat, so tot und verstümmelt, wie Sie ihn gefunden haben«, sagt die Kommissarin.
Der Gefährte eines Kindes, das hat sie gleich gedacht, gleichals sie Barabbas fortgezerrt hat. Dass jemand dieses Kind hassen muss, wenn er den Hund so zurichtet. Aber was hat die Kommissarin da gerade gesagt? Der Dackel wurde tot nach Frimmersdorf gebracht? Elisabeth fühlt, wie ihr ein Schweißrinnsal den Rücken hinunterkriecht. Dann kann Barabbas ja nicht – das würde ja heißen, dass sie ihn zu Unrecht verdächtigt und verprügelt hat. Dass niemand ihm etwas vorwerfen kann. Barabbas nicht und ihr auch nicht.
»Sie waren mit Ihrem Hund in dem Wäldchen.« Die Kommissarin sieht Elisabeth unverwandt an. »Vielleicht haben Sie ja doch irgendetwas gesehen oder gehört. Oder Ihr Hund hat angeschlagen. Das ist doch ein kluges und wachsames Tier. Wie heißt er eigentlich?«
»Barabbas.«
»Barabbas hat den Dackel gefunden, nicht wahr? Es gibt Bissspuren.«
Elisabeth spürt, wie sie zu zittern beginnt. Ein Zittern, das aus ihrem tiefsten Inneren kommt.
»Der Dackel hat das nicht mehr gemerkt.« Die Stimme der Kommissarin klingt sanft. »Bitte, Frau Vogt, denken Sie noch einmal nach. Alles kann wichtig sein. Wir müssen einen Mörder finden.«
Ein Knattern, ein Lichtblitz. Zu schemenhaft, zu schnell. Später am Fluss für Sekundenbruchteile ein Gesicht, das sie zu kennen glaubte. Später am selben Tag oder nicht? Wenn sie sich nur erinnern könnte.
»Bitte, Frau Vogt.« Die Kommissarin ist jetzt in die Sofaecke gerutscht, langt über die Lehne und streichelt Barabbas’ Rücken, der das geschehen lässt.
Das Zittern ebbt ab, so plötzlich, wie es begonnen hat. Eine große Ruhe tritt an seine Stelle. Die Kommissarin mag ihren Hund. Barabbas ist sicher, niemand will ihn ihr nehmen.
»Ein Mofa«, sagt Elisabeth. »Halbstarke, hab ich gedacht. Da war so ein Knattern, nachdem wir den Dackel gefunden haben. Ein Knattern wie von einem Mofa. Und etwas hat geblitzt.«
»Vielleicht die Reflexion eines Sonnenstrahls auf Metall.« Die Kommissarin hört auf, Barabbas zu streicheln. Sie richtetsich auf, stützt die Ellbogen auf den Tisch. Sieht Elisabeth an, als wolle sie ihre Worrte trinken.
»Ein Mofa«, wiederholt sie leise.
»Ich bin wirklich nicht sicher, es ging so schnell.« Und sie hatte Angst vor Barabbas’ Knurren, gar nicht richtig denken konnte sie deswegen. Aber das muss ich jetzt nicht mehr sagen.
»Es klang wie ein Mofa«, sagt die Kommissarin.
»Wissen Sie, was komisch war? Auf dem Rückweg hab ich jemanden beim Fluss gesehen, nur ganz kurz, einen jungen Mann, und beinahe hab ich gedacht, ich kenne ihn. Er erinnerte mich an einen Kollegen meines Mannes. Der ist früher immer mit seinem Mofa durchs Dorf gefahren und hat den Frauen schöne Augen gemacht. Aber das ist lange her. Jetzt ist er auch alt geworden, der Neisser, und sein Mofa hat er nicht mehr.«
»Neisser?« Die Kommissarin reißt die Augen auf. Sie sieht jetzt überhaupt nicht mehr müde aus.
Tim Rinkers Elternhaus ist immer noch verschlossen und verlassen. Manni schaut die Straße hinauf. Niemand zu sehen, als ob das Wohngebiet im Koma liegt. Entschlossen geht er am Eingang vorbei zu dem mannshohen Eisentor, das zwischen Hausfassade und Garage offensichtlich in den hinteren Garten führt. Er drückt auf die Klinke – abgeschlossen. Ein Blick über die Schulter, schon hat er den Fuß auf die Klinke gesetzt, schwingt sich hoch, dann auf die andere Seite. Der Garten wirkt auf eine langweilige Art getrimmt und gepflegt. Hohe Büsche versperren den Blick zu den Nachbargrundstücken, was Manni nur recht ist. Neben einem Springbrunnen steht eine Sonnenliege. Niemand liegt darauf, alles wirkt verlassen. Manni geht auf die Terrasse, legt die Hände an die Fensterfront, versucht, drinnen etwas zu erkennen. Auch hier wirkt alles aufgeräumt und menschenleer. Der Vater operiert, aber wo mag die Mutter sein? Und vor allem: Wo steckt ihr Sohn?
Die Fahrzeit von Brück nach Ostheim beträgt nur fünfMinuten, aber der Kontrast zwischen Tims Straße und der von Ralf Neisser könnte kaum größer sein. Verkehrslärm von der Frankfurter Straße brüllt herüber, Fernseh- und Musikfetzen vermischen sich zu einem wüsten
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