Unter dem Eis
schon für sehr unwahrscheinlich, dass sie sich mit einem wackeligen Kanu aufs Wasser traute.«
Die Schwimmweste im Zelt. Der Unterschlupf auf der Insel. Charlotte hat sich doch getraut, denkt Judith. Und vielleicht erklärt ihre Angst vor dem Wasser sogar ihre Faszination für die Eistaucher. Vögel, die besser schwimmen als fliegen können. Die ein zweites geheimes Leben unter der Wasseroberfläche führen, dort jagen und wer weiß was tun. Aber Berthold hat Recht, die Frage ist wichtig: Wie ist Charlotte auf die Insel gekommen, ohne Kanu, ohne Schwimmweste? Es gibt nur eine Möglichkeit: Jemand hat sie dorthin gebracht, tot oder lebendig. Und das erklärt auch, warum außer den Knochen nichts auf dieser Insel war: keine Kleidung, kein Fernglas, nichts von allem, was eine Vogelbeobachterin normalerweise mit sich führt.
»Charlotte konnte nicht schwimmen«, wiederholt Berthold. »Dieser Guide muss sie umgebracht haben, so muss das gewesen sein.«
»Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.« Judith muss hier raus. Sie will endlich duschen und die Kleidung wechseln, sie muss etwas essen. Und vor allem muss sie schlafen. Schlafen, vergessen, zumindest für ein paar gnädige Stunden.
Berthold Prätorius legt seine breiten, fleischigen Finger um den Cognacschwenker, führt ihn zum Mund. Er wirkt nackt. Wie ein Schalentier, das man aus seinem Panzer gerissen hat.
»Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll«, sagt er. »Ich muss dieses Schwein finden. Ich muss doch irgendetwas tun.«
Judiths Handy spielt Queens Spread your wings, sie nimmt das Gespräch an, hastig, mit schlechtem Gewissen, findet einen Schreibblock im Flur auf der Telefonkonsole, notiert die Adresse, die Manni im Stakkatotonfall herunterrattert.
»Es tut mir leid«, sagt sie zu Berthold Prätorius, der reglos im Sessel von Charlottes Vater sitzt. »Ich kann nicht länger bleiben, ich muss arbeiten. Ich kümmere mich um Charlotte, ich rufe dich an.«
Berthold öffnet den Mund, will protestieren. Sie rennt aus dem Haus, als seien die Jagdhunde aus dem Ölbild gesprungen und hinter ihr her.
Im Auto beginnen ihre Hände zu zittern, ihre Augen wollen nichts mehr sehen, ihr Körper versucht sich mit Gewalt zu holen, was sie ihm verweigert, und zieht Richtung Boden. Sie hält an einem Kiosk, kauft einen Schokoriegel, eine Packung Benson & Hedges und eine Flasche Wasser. Sie schlingt die Schokolade herunter, fährt rauchend weiter, mit weit geöffneten Fenstern, die Augen angestrengt offen haltend. Jetzt Manfred Mann, sehr laut, Patti Smith oder Gianna Nannini, doch die Sender, die sie hereinbekommt, spielen Dudelpop. Judith zieht an ihrer Zigarette. Sie muss mit dem Rauchen aufhören, bald, sehr bald, aber nicht heute, nicht jetzt.
Sie hält vor Tim Rinkers Elternhaus und wischt sich die Schokoladenreste aus den Mundwinkeln. Das Haus wirktvornehm, aber nun ist das Entsetzen über seine Bewohner hereingebrochen und ein Teil dieses Entsetzens ist sie. Manni sitzt mit Tims Eltern im Wohnzimmer. Ein verkniffener Herzchirurg und eine schluchzende Frau auf weißen Polstermöbeln. Weiß, um Himmels willen, denkt Judith, sie haben doch einen vierzehnjährigen Sohn. Wie soll der sich denn hier bewegen und wohl fühlen können?
Knappe Fragen, hilflose Antworten. Am Morgen ist Tim zur gewohnten Zeit zur Schule geradelt. Tims Vater hat operiert, Tims Mutter hat einen Beautytag auf einer Schönheitsfarm im Bergischen Land verbracht und deshalb das Handy ausgeschaltet. Sicher in der Schule haben sie ihren Jungen vermutet. Mittags sollte er sich in der Mikrowelle ein Nudelgericht warm machen, wie jeden Montag, nachmittags hatte er Schach-AG. Doch stattdessen ist geschehen, was bis vor wenigen Stunden jenseits ihrer Vorstellungskraft lag: Ihr einziger Sohn ist seit dem frühen Morgen verschwunden, genau so spurlos wie sein bester Freund, der, wie man jetzt leider weiß, an einem unbekannten Ort misshandelt und ermordet wurde.
Sie gehen nach oben, in Tims Zimmer, einen freundlichen, ordentlichen Raum mit hellblau gestrichenen Wänden, an denen unzählige Poster von Meerestieren und Fischen hängen. Auch das Muster der Gardinen vor den hohen Fenstern stellt eine Unterwasserlandschaft nach. Auf Fensterbänken und Regalen stehen Muscheln, Seesterne, Seeigelschalen und präparierte Fische. Zwei Zimmerpflanzen mit fleischigen grünen Sprossen statt Blättern erinnern an Meeresalgen. Tim besitzt zahlreiche Bücher und einen eigenen PC. In einer Ecke stehen zwei
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