Unter dem Eis
bequeme Sessel vor einem Schachtisch, die Figuren sind aus Halbedelstein. Nichts fehlt in diesem Kinderzimmer – außer einem glücklichen Kind.
»Er hätte so gern ein Aquarium gehabt …« Tims Mutter schluchzt leise.
Aber lebende Fische hätten Dreck und Arbeit gemacht, denkt Judith. Da hast du ihm lieber noch ein Poster gekauft.
»Warten Sie bitte unten«, sagt Manni zu den Rinkers. Die Pflaster auf seinen Handrücken sind feucht und schmuddelig,seine Augen sehen so müde aus, wie Judith sich fühlt. Schweigend streifen sie Latexhandschuhe über, machen sich auf die Suche nach dem Profil eines weiteren Jungen.
»Er hatte vor irgendetwas Angst.« Manni untersucht sorgfältig beschriftete Kästchen mit Muscheln, die Tim unter seinem Bett hortet. »Er wollte mir nicht sagen, warum. Ich hätte verdammt noch mal nicht lockerlassen dürfen.«
»Du hast getan, was ging, es war einfach zu viel«, sagt Judith.
Manni nickt, wühlt weiter in den Muscheln. Etwas hat sich verändert zwischen ihnen. Die Fremdheit ist verflogen, vielleicht sind sie auch einfach zu erschöpft, um ihr Raum zu geben. Zu erschöpft, zu besorgt. Judith nimmt sich die nächste Schreibtischschublade vor. Mädchen schreiben Tagebuch, Jungs tun das eher selten, auch von Tim findet sie keinerlei persönliche Notizen.
»Judith?« Manni hält ein Fahrtenmesser in der Hand, am Griff hängt eine rote Lederschnur mit Glasperlen. Manni hält das Messer in den Lichtkegel der Schreibtischlampe.
»Ein Indianermesser«, sagt er.
»Jonnys?«
»Wir müssen die Eltern fragen.«
»Was ist das an der Klinge?«
Manni schiebt das Messer in eine Plastiktüte. »Vielleicht Blut.«
»Kann Tim Jonnys Hund verstümmelt haben?«
»Das glaube ich nicht.«
In der untersten Schreibtischschublade liegt ein Zeichenblock. Tim kann gut malen, Judith blättert verschiedene Motive durch. Bunt. Phantasievoll. Aber ganz hinten in der Schublade klemmt ein anderes Bild, ein Bild, das die heile, glückliche Kinderzimmerwelt in einem anderen Licht erscheinen lässt: eine einzige schwarze Fläche. TIEFSEE, hat Tim auf die Rückseite geschrieben und ein Datum. Das Datum vom vergangenen Freitag.
Rote Kreise tanzen vor Judiths Augen, wieder hat sie das Gefühl, auf der Stelle umzukippen. Wir brauchen Verstärkung, denkt sie. Wir müssen Eltern, Lehrer, Schulkameradenvernehmen. Jemand muss Tims Computer untersuchen, jemand muss sich um die Fahndung nach Ralf Neisser kümmern und darum, ob die KTU im Haus seines Vaters schon was gefunden hat. Sie nimmt das Bild, zwingt sich zur Konzentration. Sie muss in Bewegung bleiben, sonst fällt sie um.
»Ich schau mal, was Tims Eltern dazu einfällt.«
»Ich komm gleich nach.« Manni ist jetzt mit dem Bettkasten fertig und widmet sich Tims Schrank.
Unten, inmitten der weißen, gepflegten Polsterlandschaft, wirkt das schwarze Bild geradezu obszön. Die Rinkers starren es an. Ungläubig. Abwehr im Blick.
»Ein glückliches Kind malt andere Bilder«, sagt Judith.
Doch das wollen Tims Eltern nicht akzeptieren. Ein Scherz sei das Bild oder ein Versuch, die Dunkelheit in der Ozeantiefe darzustellen. Ein Forschergeist sei ihr Sohn, ein glückliches Kind, es fehle ihm nichts. Wir lieben ihn doch.
»Was glauben Sie, wo Ihr Sohn jetzt ist? Warum ist er, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwunden?«
Nun sieht auch der Vater so aus, als würde er gleich weinen.
»Kommen Sie mal«, ruft Manni von oben, bevor einer der Rinkers Judiths Frage beantworten kann.
Wieder steigen sie die Treppe hinauf. Schleppende Schritte im Gänsemarsch. Wie eine Prozession verschüchterter Kinder.
Manni steht vor Tims geöffnetem Wandschrank, eine Sporttasche in der Hand.
»Tims Tennistasche, er spielt nicht mehr. Was soll damit sein?«, fragt der Herzchirurg.
Manni hebt die Tasche auf Tims Schreibtisch. Ein Bildband ist darin oder vielmehr dessen Reste. Ein gewaltsam gebrochener Einband. Zerrissene, zerschnittene und zerknüllte Farbfotografien. Vorsichtig greift Manni hinein, zeigt auf einen Fetzen des Schutzumschlags: Wunder der Meere.
»Mein Gott, Tims Lieblingsbuch!« Tims Mutter streckt die Hand aus, als wolle sie das Werk der Zerstörung wieder in Ordnung bringen.
»Nicht anfassen bitte«, sagt Manni scharf.
Erneut beginnt die Frau, hemmungslos zu schluchzen.
»Aber das war doch vorbei«, sagt Tims Vater tonlos. »Tim hat geschworen, das war vorbei.«
»Vorbei?« Mannis Stimme ist eindringlich, beinahe schmeichelnd. »Was war vorbei, Herr
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