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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Doktor Rinker?«
    »Die Hänseleien in der Schule, Tims Verzweiflung darüber, die endlosen Stunden, in denen er sich in seinem Zimmer verkroch und weinte, die Anfälle blinder Zerstörungswut, die Gespräche mit den Lehrern und den Eltern der Mitschüler. Dann, schließlich, als alles nichts nutzte, Besuche bei einem Jugendpsychologen. Bis Tim einen Mitschüler zu Unrecht des Diebstahls bezichtigte und sich dafür entschuldigen musste.«
    »Diebstahl?«, fragt Manni scharf.
    »Tims iPod. Er behauptete, ein Schulkamerad habe ihn gestohlen, aber tatsächlich fand sich das Gerät in seiner Schultasche«, sagt der Arzt, der sich vielleicht mit fremden Herzen besser auskennt als mit dem seines Sohns.
    »Wie heißt der Junge, den er beschuldigte?«
    »Lukas Krone.«
    »Lukas, nicht Viktor?«
    »Lukas.«
    »Tim hat sich also bei Lukas entschuldigt, und dann?«
    »Danach wurde es besser. Tim lernte Jonny kennen, er weinte nicht mehr. Er wollte nicht mehr zu diesem Psychologen. Er hat geschworen, das sei nicht mehr nötig, nun sei alles in Ordnung.«
    »Und Sie haben ihm geglaubt.«
    »Ja.« Der Blick von Tims Vater geistert zu dem zerstörten Bildband, über die Wände, zum Fenster hinaus.
    »Ich möchte mit diesem Psychologen sprechen. Sie müssen uns die Adresse geben«, sagt Judith.
    Manni legt das Messer neben die Sporttasche. »Gehört das Tim?«
    »Tim hat kein Messer, nein. Wo haben Sie das her?«, flüstert Tims Mutter.
    Mannis Handy beginnt zu fiepen, er meldet sich, hört zu.
    »Gut«, sagt er. »Macht weiter.« Er beendet das Gespräch, sieht Judith an. »Sie haben bei Neisser Ecstasy gefunden.«
    »Viel?«
    »Sie sind noch nicht fertig. Und Ralle ist auch noch nicht aufgetaucht.«
    Noch ein Junge, der verschwunden ist. Ein Junge, der vielleicht ein Mörder ist. Oder nicht?
    Wunder der Meere, denkt Judith, die Schwärze dort unten. Fische, die wir nicht sehen können. Vögel, die in die Tiefe eisiger Seen tauchen und verschwinden. Ein unglücklicher Junge, ein unglückliches Mädchen. Unglücklich, unverstanden, ausgelacht, ausgezählt. Aber von wem?
    »Judith?« Wie von weit her hört sie Mannis Stimme. Verwirrt öffnet sie die Augen. Ist sie im Stehen eingeschlafen?
    »Die Adresse von dem Psychologen«, wiederholt sie mühsam.
    Tims Vater nickt. »Ich hole sie.«
    Manni greift zum Handy, telefoniert mit der Spurensicherung, nennt die Adresse der Rinkers, bittet um einen Computerspezialisten.
    Schlafen. Vergessen. Unmöglich jetzt, zu viel zu tun.
    Das Gefühl, zu fallen, wird stärker. Zu fallen, den Boden zu verlieren und die Zeit.

    Als sie endlich bei den Rinkers rauskommen, wird es schon dunkel. Hintereinander lenken sie ihre Dienstwagen zurück in die andere Welt, auf der anderen Seite der Schule, eine Welt, in der es keinen wohlgeordneten Wohlstand gibt, jedenfalls keinen, der ins Auge springt. Neisser senior hockt rotgesichtig und störrisch in seiner verdreckten Miniaturküche. Nein, er weiß nicht, wo Ralf ist. Nein, der dealt nicht mit Drogen, die Ecstasy-Pillen aus Ralfs Zimmer müssen ein Ausrutscher sein, ein Irrtum oder gar eine Unterstellung der Polizei, sein Junge ist sauber. Sie konfiszieren den Teppich aus dem Bauschutthaufen, die KTUler schaffen ihn ins Labor, zusammen mit den Technopillen. Und damit müssen sie sich für den Augenblick geschlagen geben, was der Planschbeckenkönig mit einem bösartigen Grinsen quittiert.
    Draußen greift die Luft nach ihnen, feucht und schwer und statisch aufgeladen, wie der Vorbote einer subtropischen Unwetterfront.
    »Was jetzt?«, fragt die Krieger, lehnt sich an ihren Dienstwagen und zündet eine Zigarette an. »Wir können doch nicht einfach Feierabend machen.«
    »Ich will Viktor Petermann erwischen, ich fahr da noch mal hin. Viktor ist Ralfs Freund, vielleicht weiß er, wo Ralf ist.«
    Zu Mannis Überraschung protestiert seine Kollegin nicht und will auch nicht mitkommen.
    »Ruf mich an, wenn du was erreichst«, sagt sie einfach. »Ich fahr ins Präsidium und schau, ob ich doch noch was über die Neissers rausfinden kann und über die Rinkers.« Das Zwielicht lässt ihre Gesichtszüge geisterhaft erscheinen, verschattet und durchsichtig zugleich.
    Erst im Auto merkt Manni, wie hungrig er ist. Er hält an einem Imbiss, bestellt eine Currywurst mit Fritten und ruft seine Mutter an, während er isst. Stumm hört sie sich eine weitere Entschuldigung an, und auf einmal wird ihm bewusst, dass sie ihn seit dem Tod seines Vaters noch nicht ein einziges Mal

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