Unter dem Eis
Seite. Also: Wo habt ihr Jonny hingebracht und wo ist Tim?«
»Keine Ahnung, Mann, ich schwör’s.«
»Keine Ahnung?« Manni langt über den Tisch, packt Neissers T-Shirt, zieht sein Gesicht ganz nah vor sein eigenes. »Ich glaub dir kein Wort!«
Wieder legt Judith Krieger ihre Hand auf Mannis Arm. Abrupt lässt Manni Jonnys Peiniger wieder los, der daraufhin mit einem erstaunten Winseln zurück auf seinen Stuhl plumpst.
»Wo habt ihr Jonny hingebracht?«, wiederholt Manni.
»Frag doch Vik und seinen Alten. Der war schließlich auch in dem Wald, ich hab ihn ganz genau gesehen. Aber die sind ja reich, die lasst ihr in Ruhe, klar.«
Wie auf Kommando sprintet der Anfänger ins Zimmer und präsentiert den Durchsuchungsbeschluss. Manni springt auf, die Krieger ist schon an der Tür.
»Kümmer dich um den Burschen hier, wir brauchen ihn noch«, ruft Manni dem Anfänger zu.
Judith Krieger hetzt vor ihm her, verlangsamt jedoch ihr Tempo, als sie merkt, wie es um Mannis Mobilität steht. Sein Bein schmerzt wie Hölle, er kann kaum noch auftreten. Die Luft draußen ist zum Schneiden, der Himmel wie überhitzte Watte, die sich immer tiefer senkt und alles zu ersticken droht. Manni telefoniert mit der KTU, während Judith den Dienstwagen auf den Autobahnzubringer lenkt, zwei Streifenwagen eskortieren sie.
»Tim war in der Halle«, berichtet Manni. »Sie haben seine Fingerabdrücke.«
»Vielleicht täusche ich mich«, sagt Judith Krieger. »Vielleicht geht es auch bei Tim nicht um Suizid. Vielleicht haben wir es doch mit denselben Tätern zu tun: Den einen Jungen verschleppen sie aus dem Königsforst, den anderen aus der Fabrikhalle. Aber wohin?«
»Das Anwesen der Petermanns ist weitläufig«, schlägt Manni vor.
Judith Krieger nickt. »Sosehr mir dieser Ralle zuwider ist – vielleicht hat er ja Recht. Vielleicht wollen wir nur einfachgern, dass er der Täter ist, weil wir das erträglicher finden. Der Prolo aus dem asozialen Milieu …«
Die Luft scheint noch stickiger zu sein, als sie das Petermann’sche Domizil erreichen. Der Indianerboss öffnet ihnen persönlich die Tür, und augenblicklich hat Manni wieder dieses Gefühl, dass er immer noch irgendein wichtiges Puzzleteil in diesem vertrackten Fall übersieht. Ungläubig starrt Hagen Petermann auf die Streifenwagen auf dem Bürgersteig, aus denen die Kollegen springen.
»Wo ist Ihr Sohn?«, fragt Judith Krieger.
Petermann schüttelt den Kopf, offenbar aus der Fassung.
»Wir werden uns hier jetzt umsehen«, erklärt Manni und überreicht dem Indianerboss den Durchsuchungsbeschluss. »Vor allem interessiert uns, ob es auf Ihrem Anwesen irgendwo einen Raum gibt, wo man einen Jungen gefangen halten könnte. Schallgeschützt und vermutlich klimatisiert.«
»Mein Anwalt …« Petermann fingert nach seinem Handy. Manni schiebt ihn beiseite und winkt die Kollegen herein.
Schwärze, abgrundtiefe Schwärze. Zuerst hat er noch die Augen aufgerissen. Soweit es ging jedenfalls, denn sein Gesicht pocht vor Schmerzen und sein linkes Auge ist von den Schlägen beinahe zugeschwollen. Jetzt ist er klüger, ergibt sich dem Schmerz, weint nicht, schreit nicht, öffnet die Augen nicht mehr. Er weiß nicht, wie viele Stunden oder gar Tage vergangen sind, seit er hier in dieser Dunkelheit gefangen ist. Doch was er mit Sicherheit weiß, ist, dass das Licht, nach dem er sich so verzweifelt sehnt, nicht kommen wird. Wie in der Tiefsee, denkt Tim. Wer einmal unten ist, kommt nicht wieder hoch. Auch der Druck und die Kälte scheinen zuzunehmen, wie da unten, kilometertief im unerforschten, lichtlosen Ozean. Doch der Gedanke an die Unterwasserwelt hat nichts Tröstliches und nichts Faszinierendes mehr. Es ist, als ob sich die pechschwarze Dunkelheit Millimeter um Millimeter auf ihn herabsenkt, um ihn zu begraben. Lautlos und unerbittlich. Eine dunkle Macht, die ihn zerquetscht.
Aber natürlich hat diese Macht einen Namen. Einen Namen, an den Tim nicht denken will, den er für immer vergessen will, denn vielleicht kommt das Böse dann nicht mehr zurück und er kann hier wenigstens alleine sterben. Steinwände umgeben ihn. Kalt, glatt, hart. Es stinkt nach Urin und Kot. Bei seiner ersten, tastenden Erkundung ist er in einer Ecke auf Exkrementen ausgerutscht. Auch die Matratze, die Tim an einer anderen Stelle seines Gefängnisses gefunden hat, stinkt und ist feucht. Er muss im Schlaf gepinkelt haben, wie früher, als er noch klein war. Einmal ist ihm das sogar auf einer
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