Unter dem Eis
Klassenfahrt passiert. Er versucht, nicht daran zu denken, was dann geschah, kauert sich zusammen, ganz still. Vielleicht ist es ja auch gar keine Pisse auf der Matratze, sondern Blut.
Er muss eingeschlafen sein, denn auf einmal ist doch ein Geräusch zu hören. Ein Wimmern erfüllt den Raum, ein leises, hohes, verzweifeltes Geräusch. Es dauert eine Weile, bis Tim begreift, dass es sein eigenes Wimmern ist. Er beißt die Lippen aufeinander, igelt sich noch weiter ein, tastet nach dem Metallplättchen, das er in der Ritze zwischen Matratze und Wand gefunden hat. Ein kleiner Anhänger mit Prägungen und einem Eisenring – die Hundemarke von Jonnys Dr. D., denn an dem Ring ist ein Bändchen mit Glasperlen befestigt, so wie an Jonnys Messer.
Jonny war hier, Jonny hat Dr. D.s Hundemarke hier versteckt. Im ersten Moment, als Tim die Hundemarke fand, hat er sich gefreut. Doch dann hat er begriffen, dass es keine Rettung gibt, nicht für Jonny und nicht für ihn. Dass die versteckte Hundemarke nichts weiter ist als einer von Jonnys Indianertricks: Spuren hinterlassen – eine geheime Botschaft für Verbündete, unsichtbar für den Feind. Aber es gibt keine Verbündeten mehr.
Der Druck scheint noch weiter zuzunehmen. Etwas läuft Tim aus der Nase. Rotz oder Blut, es ist ihm egal, er hat nicht die Kraft, es wegzuwischen. Sein Mund ist trocken, aber er fühlt keinen Durst mehr und auch keinen Hunger. Er liegt auf der nassen Matratze, streichelt die Hundemarke mit dem Zeigefinger und versucht, an Jonny zu denken. Was er hier indiesem Raum gedacht und getan hat. Was er jetzt, in diesem Moment, an Tims Stelle tun würde. Und ob es die ewigen Jagdgründe von Jonnys Indianern wirklich gibt, ob Jonny und Dr. D. jetzt dort sind und auf Tim warten.
Wieder ein fremdes Geräusch. Ein gedämpftes Murmeln, dann ein metallisches Kratzen. Das Böse kommt zurück, gleich öffnet es die Tür. Tim macht sich noch kleiner, rutscht, so weit es geht, in die Ecke.
Das Murmeln verstummt, das Kratzen wird laut, ein Schwall frischer Luft dringt in den Raum, das Schwarz hinter Tims Augenlidern explodiert zu blutigem Rot.
Tim presst sich noch fester an die Wand. Wenn er nur mit ihr verschmelzen könnte, zu Stein werden.
Die Luft. Das Rot. Der Aufschrei eines Mannes, der sich immer und immer wiederholt. »O Gott, o Gott, o Gott, o Gott!«
Und dann eine Hand, die Tims Kinn umfasst und anhebt, unendlich sanft und lebendig warm.
Angst, Exkremente, stockendes Blut. Der Gestank ist überwältigend. Tränen laufen Judith übers Gesicht, nur halb bewusst nimmt sie das wahr, während sie auf der stinkenden nassen Matratze kniet, dicht neben dem zusammengekrümmten Bündel, das einmal ein neugieriger Junge gewesen ist. Anfangs hat sie versucht, ihn in die stabile Seitenlage zu drehen, sogar eine Frage hat sie ihm gestellt. Wer, Tim, wer hat dich hierher gebracht? Dann hat sie begriffen, dass der Junge eine Grenze überschritten hat und zu verängstigt ist, um noch auf irgendetwas zu reagieren. Ganz vorsichtig streichelt Judith sein klebriges Haar, weil jede andere Berührung ihn zusammenzucken lässt.
»Du bist in Sicherheit, Tim, sie können dir nichts mehr tun«, flüstert sie. Der Junge presst sich an die Wand. Sie kann nicht einmal sagen, ob er sie hört. Trotzdem spricht sie immer weiter zu ihm, Worte, die trösten sollen, Botschaften aus einer heilen Welt, vom Meer und vom Licht und von frischer,sonnengetränkter Luft. Hoffnungsbotschaften von Sicherheit, Liebe und Glück, die sich zurückerobern lassen, wenn man das nur will.
Zeit vergeht. Hinter Judiths Rücken verebben die Stimmen, Fußschritte entfernen sich, verharren, kommen zurück. Ganz weit weg glaubt sie das Heulen eines Martinshorns zu hören, aber vielleicht ist das auch nur ein aus ihrer Verzweiflung geborener Wunsch, weil jede Sekunde in diesem Verlies so unerträglich ist. Der Junge auf der Matratze wimmert kurz, krampft sich dann wieder zusammen. Er hält etwas in seiner rechten Faust verborgen, ein Stück Metall schimmert zwischen seinen schmutzverkrusteten Fingern. Judith wagt nicht, danach zu greifen. Kniet einfach nur neben ihm, streichelt sein Haar, versucht, sein Schutzschild zu sein. Das Leben ist zu zerbrechlich und zu verdammt ungerecht, aber diesmal sind sie gerade noch rechzeitig gekommen.
Die Lichtkegel weiterer Taschenlampen kündigen die Ankunft der Sanitäter an. Mühsam richtet Judith sich auf, sieht ihnen zu, wie sie Tim auf die Trage betten, zwei junge
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