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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sie haben diesen schrecklichen Film gedreht.«
    Wieder dudelt Judiths Handy. Ungeduldig reißt sie den Hörer ans Ohr.
    »Falscher Alarm!«, schreit ein weiterer unbekannter Kollege. »Das waren Unbeteiligte im Königsforst, Vater und Sohn. Vom Kollegen Korzilius soll ich schöne Grüße bestellen. Er hat Ralf Neisser in einer Fabrikhalle gestellt. Könnte der Tatort im Fall Röbel sein. Meld dich bei ihm. Die KTU ist unterwegs.«
    Zu viele Fäden, zu viele Jobs, zu viele Spuren, die ins Leere führen. Hastig trinkt Judith einige Schlucke Kaffee gegen die Erschöpfung, die einmal mehr die Krallen wetzt und sie packen will. Sie stellt das leere Glas ab, dreht sich noch eine Zigarette, inhaliert tief, konzentriert sich wieder auf Tims Cousine, die ihr gegenübersitzt und nun, als sei ein Damm gebrochen, Rechtfertigungen schluchzt und ihre Unschuld beteuert. Aber darunter verbirgt sich noch eine andere Geschichte, die Judith nach und nach aus dem Mädchen herauslockt: die Geschichte von Tims Qualen. Folter in einer neuzeitlichen Dimension, denkt Judith, einer technisch hochgerüsteten Welt, in der selbst Schulkinder mit ihren Mobiltelefonen Videos drehen und in Windeseile verbreiten können. Kids, die in einer Gesellschaft aufwachsen, die sich als Leitbilder Modernität und Toleranz auf die Fahnen schreibt und darüber vergisst, ihren Kindern beizubringen, dass Pornos kein Spiel sind, sondern die Beteiligten zerstören oder jedenfalls ihre Würde.
    »Zeig mir den Film«, sagt Judith, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubt, Zeugin eines Übergriffs zu werden, der nichts anderes ist als eine Vergewaltigung.
    »Er ist weg«, flüstert Ivonne mit hochrotem Gesicht. »Er ist weg, seit Tim allein in meinem Zimmer war.«
    »Du meinst, er hat den Film gelöscht?«
    Ivonne nickt. »Ich hatte mein Handy vergessen.«
    »Wann war das?«
    »Sonntagnachmittag.«
    Und am Morgen darauf ist Tim verschwunden. Vorher hat er noch sein Lieblingsbuch zerstört. Trotz der Schwüle friert Judith.
    »Wer hat dir den Film geschickt, Ivonne?«
    Das Schluchzen wird wieder stärker, die Makellosigkeit des Mädchengesichts löst sich in rote Flecken und Schlieren von Wimperntusche auf. Nichts ist mehr von der Coolness geblieben.
    »War es Viktor, Ivonne?«, fragt Judith sanft.
    Tims Cousine verbirgt ihr Gesicht in den Händen. »Aber ich kann doch nicht …«, flüstert sie.
    »Du glaubst, du kannst Viktor nicht verraten, weil er dein Freund ist«, sagt Judith leise, und die Erinnerung an David trifft sie wie ein Messerstich.
    Ivonne nickt, eine fast unmerkliche Bewegung, halb verborgen hinter ihren Händen.
    »Es war Viktor, der dir den Film geschickt hat, oder?«
    »Alle hatten diesen Film plötzlich und haben ihn weitergeschickt. Viktor ist ganz bestimmt kein Mörder!« Ein weiterer Weinkrampf schüttelt das Mädchen. »Bitte sagen Sie ihm nicht, dass ich ihn verraten habe.«
    Das Tuscheln, das Lachen, die vernichtenden Blicke. Wie harmlos das damals war, denkt Judith. Und doch hat es gereicht, Charlotte zu zerstören. Aber vielleicht stimmt das ja gar nicht, vielleicht vermischt sie die beiden Fälle nur aus diesem alten Schuldgefühl heraus oder aus Übermüdung. Vielleicht hat Manni Recht und es ist völlig falsch, den Täter im Schulmilieu zu suchen.
    »Was ist mit Jonny, Ivonne? Hat Viktor den auch so gequält?«
    »Nein«, das Mädchen schüttelt den Kopf. »Außerdem war es nicht nur Vik. Alle waren gemein zu Tim.«
    »Aber es haben doch nicht alle den Film gedreht, oder?«
    Ivonne antwortet nicht.
    »Wer?« Judiths Stimme klingt schroff. »Wer hat bei dem Video mitgemacht? Du hast den Film doch gesehen.«
    »Es waren mehrere.« Ivonne sieht Judith nicht an, greift mit zittrigen Fingern nach ihren Zigaretten. »Jungs. Ich hab ihre Hände gesehen. Sie haben Tim festgehalten.«
    »Nur die Hände?«
    Ivonne steckt sich eine Zigarette an, und für einen Moment schimmert Trotz in ihren verheulten Augen. Dann senkt sie wieder den Blick und stippt ihre Zigarette in den Aschenbecher, streift die Asche von der Glut. »Ich glaub, ich hab Ralle erkannt«, flüstert sie.

    Er sollte Triumph fühlen. Er sollte sich mit ganzer Energie auf das Verhör konzentrieren, denn Ralf Neisser, genannt Ralle, hat jede Menge Dreck am Stecken. Aber Manni fühlt keinen Triumph. Etwas nagt in seinem Unterbewusstsein. Der Schemen einer Erinnerung an etwas, was er übersehen hat. Vielleicht. Oder auch nur ein vager Zweifel, ob der Halbwüchsige, der breitbeinig vor

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