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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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kann. Als der Abend sich ankündigt, stemmt sie sich vom Küchensofa hoch und zwingt sich hinaus zu ihrem Sitzplatz unter dem Kirschbaum, der schon im Schatten liegt. Barabbas weicht nicht von ihrer Seite, als wittere er ein drohendes Unheil, als wolle er sie vor etwas bewahren. Elisabeth nimmt all ihre Kraft zusammen und krault ihrem Hund den Nacken, sobald sie den grau verwitterten Lehnstuhl erreichen. Mit einem leisen Seufzer legt der Schäferhund die Schnauze auf Elisabeths Knie und schließt die Augen. Er vertraut mir noch, er hat tatsächlich vergessen, was ich ihm angetan habe. Mein Hund. Mein Gefährte. Mein Freund. In einem stummen Gebet dankt sie ihrem Schöpfer.
    Es ist sehr still, nur die Amseln über ihrem Kopf streiten um die Kirschen. In diesem Jahr hat niemand ein Netz über die Krone gespannt. Nächstes Wochenende müsste Carmen zur Ernte kommen, aber Elisabeth beschließt, sie lieber nicht daran zu erinnern und die Kirschen notfalls verderben zu lassen, denn der Tochter am Telefon etwas zu verheimlichen ist eine Sache, aber einer Carmen, die mit ihren kalten Augen das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, und ihre alternde Mutter, die sich nicht davon trennen mag, nach Anzeichen des Verfalls absucht, fühlt Elisabeth sich nicht gewachsen.
    Nicht an Carmen denken, nicht jetzt. Und niemals mit ihr über das sprechen, was gestern geschehen ist, sondern schweigen, um jeden Preis schweigen, Barabbas retten. Aber vertreiben lassen sich die Erinnerungen dennoch nicht, gaukeln vor Elisabeths Augen in flimmernden Schemen, necken sie, quälen sie. Barabbas wälzt sich im Dreck. Barabbas ist verschwunden. Ein Geräusch, das Elisabeth nicht deuten kann, von dem sie nicht einmal mehr sicher ist, ob sie es tatsächlich gehört hat. Und etwas anderes, was sie gesehen und doch nicht gesehen hat. Dann nichts mehr, nur angsterfüllte Schwärze, Barabbas ist weg und schließlich sein gekrümmter Rücken und dieses schreckliche Grollen aus seiner Kehle. Barabbas hat den Dackel totgebissen, der Dackel hatte kein Halsband, er war ganz allein. Eines seiner Ohren fehlte. Verkrustetes Blut, dort, wo es am Kopf sitzen sollte, aber keine Bissspuren, sondern ein sauberer Schnitt. Eine Fliege will im Auge fressen.
    Die Zeit kriecht vorwärts, während sich Elisabeths Gedanken jagen. Barabbas liegt im Gras und schläft, sein Kopf ruhtauf ihrem linken Fuß. Wie vertraut er ihr ist, wie sanft er ist. Unschuldig. Und doch hat er getötet. Aber Elisabeth fühlt keinen Hass, keine Angst, keine Abscheu vor ihm, nur Reue, weil sie nicht besser auf ihn aufgepasst und weil sie ihn geschlagen hat. Die Menschen sind es, immer nur die Menschen, denkt sie, die die wahren Gräueltaten verüben. Wer hat dem Rauhaardackel sein Ohr abgeschnitten? Wer hat ihn, verstümmelt, wie er war, in dem Wäldchen seinem Schicksal überlassen? Oder war er womöglich gar nicht allein? Der Gedanke erfüllt sie mit unerklärlicher Unruhe. Sie stöhnt auf, als ihr eine neue Ladung Blei durch den Körper schießt. Morgen wird sie prüfen, ob der Dackel in Frieden ruhen kann oder ob sie etwas übersehen hat. Elisabeth schließt die Augen und bittet Gott um Kraft.

    Der Verkehr Richtung Severinsbrücke ist zäh, die sinkende Sonne brennt durchs offene Verdeck. Judith wählt den melodischen Jazz des ostdeutschen Duos Friend and Fellow, um ihre Nervosität zu bekämpfen. Millstätt hat sie ins Präsidium bestellt, das kann ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein. Ich will meinen Job zurück, denkt Judith. Ich will nicht, dass er mich versetzt. Sie zündet eine Zigarette an, versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren. Es gelingt ihr nicht.
    Der Nachmittag ist mit Fleißarbeit vergangen. Sie hat mit Charlottes Gärtner, der Putzfrau und mehreren Nachbarinnen gesprochen, ohne etwas Neues zu erfahren. Sie hat Latte macchiato in einem Straßencafé getrunken und dabei die Unterlagen, die Irene Hummel fotokopiert hat, durchgelesen. Sie ist in der Villa noch einmal von Raum zu Raum gegangen und hat dabei versucht, die Bilder, die Professor Wolfram und seine Sekretärin gezeichnet haben, heraufzubeschwören. Ein hässliches Entlein, im Schatten seines Vaters. Fleißig, aber ohne echte eigene Ambition. Schüchtern und menschenscheu. Und ein charmanter junger Mann, der von einer anderen Welt erzählt. Der in Charlottes Elternhaus ein und aus geht, bis er wieder nach Kanada verschwindet und von dort ein bisschenHoffnung in Form einer Postkarte schickt. Und dann landet eines

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