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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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übersehen. Und jetzt sitzt sie hier an Charlottes einstigem Arbeitsplatz und stochert in ihrem Leben herum. Wer gibt ihr eigentlich das Recht dazu?
    Wieder erinnert sie sich an den Eistaucher aus ihrem Traum. Sein roter, unverwandter Blick war eine Botschaft.Aber was für eine Botschaft? Warnung? Vorwurf? Hilferuf? Ich weiß es nicht, denkt Judith, es war nur ein Traum. Aber die Sorge um Charlotte bleibt trotzdem da, das Gefühl von Beklemmung aus dem leeren unpersönlichen Haus, die alte Angst, zu spät zu kommen. Reiß dich zusammen, ermahnt Judith sich. Doch die frühere Schulkameradin drängt sich in ihren Kopf wie ein Familienmitglied, von dessen Existenz man eben erst erfahren hat, eine Halbschwester vielleicht. Man wird solche Verwandte nicht wieder los. Man hat sie nie vermisst, aber sobald man von ihnen weiß, kann man nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Weil sie, egal wie sehr man sich dagegen wehren mag, unauflöslich mit der eigenen Identität verbunden sind.
    Auf einmal wird ihr bewusst, dass sie die Gesprächspause zu lang hat werden lassen, der Professor wühlt in einem Aktenstapel. Er will nicht mit Judith reden, er will nicht auf ihre Fragen warten, und schon gar nicht will er über Charlotte reden, das ist mehr als deutlich. Aber darauf kann sie keine Rücksicht nehmen, denn sie muss Charlottes Geheimnis ergründen, schon allein damit sie sie wieder loswird. Sie lehnt sich ein Stück vor, bemüht, die Aufmerksamkeit des Professors wiederzuerlangen.
    »Haben Sie Charlotte und ihren Vater mal gemeinsam erlebt?« Die Pfeife wippt in Wolframs Mundwinkel, während er immer ungeduldiger in seinen Papieren blättert. »Sicher habe ich das. So groß ist das Biologische Institut ja nicht.«
    »Wie war ihr Verhältnis?«
    »Sie trugen beide nicht ihr Herz auf der Zunge und behielten Privates für sich.«
    »Und das heißt?«
    »Hören Sie. Sie haben gesagt, Sie machen sich Sorgen um ihre Schulfreundin. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie mit Ihren Fragen nach diesen uralten Geschichten bezwecken. Wilhelm ist tot.«
    »Also war ihr Verhältnis nicht unproblematisch.« Früher im KK 11 wurde sie für ihre Verhöre gerühmt. Zum ersten Mal spürt sie wieder diese alte Macht. Ihre Worte kommen leicht.
    Der Professor merkt, dass sich etwas geändert hat. Wütend pafft er Judith eine Tabakwolke ins Gesicht. »Wilhelm war eine Koryphäe, sehr eloquent, sehr charismatisch – ein Star, wie man heute so sagt. Und seine Tochter war …«
    »Ein hässliches Entlein?«
    »So könnte man sagen. Still. Fleißig. Begabt. Aber eben ohne Wilhelms Charisma.«
    »Hatte sie deshalb Probleme hier am Institut?«
    »Nein.«
    »Hatte sie Streit mit ihrem Vater?«
    »Allenfalls mal einen fachlichen Disput.«
    »Worüber?«
    Wolfram sieht demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Das führt nun wirklich zu weit. Sagen wir mal, Wilhelm hätte es wohl lieber gesehen, wenn seine Tochter sich der Genetik verschrieben hätte wie er, oder der Biochemie. Nicht der Zoologie.«
    »Aber genau das hat sie getan.« Judith ist noch nicht bereit, ihn zu entlassen.
    Er funkelt sie an.
    »Worüber wollte sie promovieren, was war ihr Spezialgebiet?«
    »Verhaltensforschung, das Sozialsystem von Ratten, obwohl sie eine hochbegabte Morphologin war.«
    »Morphologin?«
    »Sie konnte hervorragend Tiere sezieren und präparieren, wie der Laie sagen würde.« Der Professor lächelt dünn und offenbart eine Reihe gelblicher Zähne.
    »Hat sie sich auch mit Wasservögeln beschäftigt?«
    Überrascht sieht er Judith an. »Wie kommen Sie darauf?«
    » Gavia immer  –  Eistaucher. Sagt Ihnen das etwas im Zusammenhang mit Charlotte Simonis?«
    »Das war später.« Er schiebt einen Stapel Papiere in eine abgewetzte Aktentasche, sieht erneut auf die Uhr und steht auf.
    »Später?« Judith macht keine Anstalten, aufzubrechen. Vielleicht wird er sie einfach hier sitzen lassen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er seine Akten vor ihr beschützen will.
    »Vor etwa drei Jahren.« Ein Punkt für Judith. Der Professor senkt seinen dürren Hintern auf die Schreibtischkante. »Frau Simonis unterrichtete nach dem Tod ihrer Mutter wieder aushilfsweise hier am Institut, betreute Studenten im morphologischen Praktikum.«
    »Und da hat sie Eistaucher seziert?«
    »Eben nicht.«
    »Wie bitte?«
    »Gavia immer.« Wieder fliegen Spucketröpfchen. »Ein verirrtes Exemplar auf einem Kühlwassersee bei Düren. Sehr ungewöhnlich. Charlotte Simonis und ein paar unserer

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